Manchmal kommt es einfach anders. Zwar reizt der Gedanke, sich auf die Kjeragkugel zu stellen. Andererseits wären wir dafür wohl bis zu sechs, sieben Stunden lang auf den Beinen. Damit wäre der Tag im wahrsten Sinne des Wortes gelaufen. Doch meine Ferien gehen langsam zu Ende, und ich will mir unbedingt noch den Leuchtturm von Lindesnes angucken. Es ist Freitagmorgen – und am Montag muss ich wieder in der Redaktion sitzen.
So verabschiede ich mich von der Kanadierin, die sich einer anderen Wandergruppe in Richtung Kjerag anschließt. Vielleicht teilen sie sich ein Taxi bis zum Restaurant Øygardstølen („Adlernest“), dem Ausgangspunkt des Wanderweges. Der einzige Fuhrunternehmer in Lysebotn, zugleich Besitzer des Campingplatzes, verlangt für die sechs Kilometer kurze Strecke allerdings ungeheuerliche 350 Kronen – 44 Euro!
Die sechs Kilometer haben es aber auch in sich: Über 27 Haarnadelkurven führt die ziemlich bekannte Strecke von Lysebotn die 600 Höhenmeter den Hang hinauf bis zum Øygardstølen. Sie wurde erst 1984 gebaut und ist nur im Sommer befahrbar.
Auf der Anzeige des Navigationssystems stellt sie sich als eine Art Darmverschlingung dar. Du meine Güte, man möchte nicht, dass einem der Arzt so etwas auf einem Röntgenbild zeigt.
Als ich aufbreche, ist meine Freewind bei weitem nicht das einzige Kraftrad in dem winzigen Ort. Am Abend vorher habe ich nicht schlecht gestaunt, als plötzlich eine ganze Horde Mopeds – die kleinen mit einem P – auf dem Campingplatz einfiel. Es müssen mehrere Dutzend gewesen sein, die da mit erwachsenen Männern am Lenker und riesigen Packtaschen auf den Gepäckträgern an mir vorbeiknatterten: Zündapps, Kreidlers, Puchs – offenbar haben die Norwegischen Zweitaktfreunde ihr Jahrestreffen nach Lysebotn gelegt. Am nächsten Morgen finden Geschicklichkeitswettbewerbe statt.
Jetzt mache ich mich auf den Weg, den sie gestern gekommen sind.
Ein Tunnel gehört auf jeder guten norwegischen Landstraße zur Grundausstattung. Die Lysebotn-Straße hat einen mit besonders starker Steigung. Die Krönung: Seine Röhre ist tief über einen Kilometer weit in den Berg hineingeschlagen und enthält eine der 27 Spitzkehren.
Ausnahmsweise, und weil ich schon immer mal ein Tunnelfoto machen wollte, riskiere ich es und stelle mich mitten auf die Straße. Verkehr von hinten kann nicht kommen, es gibt da unten ja nur den Fähranleger von Lysebotn. Ich habe kaum den Motor abgestellt, die Handschuhe ausgezogen und die Kamera aus dem Tankrucksack gefuddelt, als hinter mir im Tunnel Motorengeräusch immer lauter wird. Verdammt!
Selten habe ich die Maschine so hektisch angelassen und an die Seite gefahren. Schon donnert eine wahre Welle heran: Lastwagen, Wohnmobile, Autos, die übliche norwegische Fahrzeugschlange. Es gibt dafür nur eine Erklärung. Die Fähre muss gerade angekommen sein.
Als das letzte Auto an mir vorbeigezogen ist, warte ich noch eine Weile. Erst als alles längst wieder still ist, starte ich den Motor wieder und rolle in die Mitte des Tunnels in Position. Aber es ist wie verhext: Kaum habe ich die Kamera im Anschlag, röhrt schon wieder eine Kolonne Autos den Berg herauf. Alles nochmal. Erst beim dritten Versuch bleibt alles ruhig und ich komme zu meinem Foto.
Die Straße selber entschuldigt sich für die Unbequemlichkeiten mit schlicht wundervoller Aussicht.
Hinter jeder Schlaufe ist der Lysefjord noch schöner.
Dann kommt der Øygardstølen in Sicht. Hier, in rund 600 Metern Höhe, beginnt der Fußweg zum Kjerag. Dass mein alter Wegbegleiter inzwischen zurück ist, der ergiebige nordische Regen, bestätigt mich in meinem Verzicht auf die Wanderung. Ein Felsklippenbesuch pro Urlaub muss reichen. Ich will an endlich die Küste. Im Süden soll das Wetter auch besser sein.
Ach ja, da war noch ein kleines Problem. Schon in Preikestolen stand die Tankanzeige der Suzuki deutlich auf Reserve. Von Lysebotn bis zur nächsten Ortschaft sind es aber mindestens noch einmal 60 Kilometer. Bisher bin ich mit einer Tankfüllung noch nie groß über 300 Kilometer hinausgekommen. Bei der Abfahrt zeigt der Kilometerzähler nun schon 310 an.
Die schmale Straße führt durch sehr viel Gegend. Es gibt angenehmere Gedanken als den, in dieser wolkendurchzogenen Mondlandschaft ohne Benzin liegenzubleiben. Trotzdem denke ich die ganze Zeit fast an nichts anderes.
Am Wegesrand aus Steinen kleine Pyramiden aufzuschichten, ist fester Brauch unter Wanderern in aller Welt. Nicht nur am Preikestolen, vergleiche den Eintrag von gestern. So etwas habe ich sogar schon im Himalaya gesehen. Allerdings nie in solchen Mengen wie hier: Die ganze Ebene ist weithin übersät mit den kleinen Häufchen. Bei Nacht und Nebel muss das ein bisschen unheimlich aussehen.
Sommer in Norwegen…
…will man im Winter hier sein?
Es hilft nichts, ich kann nicht in dieser Gegend gewesen sein, ohne dass die Suzuki einmal Schnee geküsst hat. Sie hat – hier ist der Beweis.
Wie gesagt, wir haben Ende Juni. Wenn jetzt hier oben immer noch so hoch Schnee liegt – wie hat es dann wohl im Winter ausgesehen?
Niemand weiß es, denn nach 29 Kilometern passiere ich diese Straßensperre. In der kalten Jahreszeit versperrt der Schlagbaum den Weg. Auf dem Schild steht: „29 Kilometer nach Lysebotn. Gefälle 800 Meter. Achten Sie auf die letzten 8 km. Dort gibt es 32 Haarnadelkurven, einen 1100 Meter langen Tunnel und 340 Kurven. Fahren mit Wohnwagen nicht empfehlenswert. Gute Reise. Fahren Sie vorsichtig.“ (© Deutsche Übersetzung: Marc Heckert mit Hilfe von Heinzelnisse.)
Auch jetzt ist leider immer noch keine menschliche Siedlung in Sicht. Und die digitale Tanknadel zeigt nur noch ein einziges schmales Segmentlein an – normalerweise gut für rund 20 Kilometer. Im sparsamsten Schleichtempo erreiche ich die kleine Feriensiedlung Sirdal. Immer noch keine Tankstelle, aber ein Kiosk: In Sinnes sei die nächste Tankmöglichkeit. Also weiter.
Unterwegs erlischt auch das letzte einsame Segment im Display. Hoffen wir, dass es der Motor nicht merkt und noch ein Weilchen aus purer Gewohnheit weitertuckert. Komm schon, Suzi, du kriegst auch feines Kettenspray nachher…
Endlich Erlösung. „Esso“ heißt sie. Selten habe ich mich über dieses ovale Schild so gefreut. Hier der fotografische Beweis: 379 Fahrtkilometer und eine restlos leere Tankanzeige – neben dem „E“ für „Empty“ steht kein Strich mehr.
Entspannt und mit frisch geschmierter Kette – ich mache ja keine leeren Versprechungen – geht es weiter Richtung Süden. Das Wetter bessert sich zusehends…
…und die Gegend bleibt schön.
Fjorde wollte ich, Fjorde kriege ich.
Das letzte Stück bis zum Kap Lindesnes, Norwegens südlichstem Punkt, führt über eine langgestreckte Halbinsel. Die schmale Straße nimmt jede Bucht und jeden Hügel mit und zieht sich ewig hin.
Aber ist es hier nicht herrlich? Schöner kann es in Griechenland auch nicht sein. Na gut, es scheint zur Abwechslung mal die Sonne…
Dann sind wir da. Am Fyr, dem Leucht“feuer“, ist ein Besucherzentrum eingerichtet. Im Hintergrund ist oben auf den Klippen der alte Leuchtturm zu sehen, ein kleiner weißgestrichener Ziegelbau, in den früher Leuchtfeuer gestellt wurden.
Lindesnes Fyr. Ein traumhaftes Postkartenmotiv. Aufmerksame Aachener Zeitungsleser erkennen das Foto: Es stand auf der wöchentlichen Online-Seite „Vernetzt“ am Dienstag, 8. Juli.
Das alte Leuchtfeuer. Links steht ein Feuerkorb, wie er in die Mauernischen des Bauwerks gestellt wurde.
Der prachtvolle alte Bau aus Gusseisen stammt aus dem Jahr 1915.
Weitaus mehr Umdrehungen hat der Linsenapparat auf dem Buckel: Er wurde schon 1854 konstruiert und war bereits im Vorgänger des Turms installiert. Seine Lichtstrahlen reichen 20 Seemeilen weit, knapp 40 Kilometer.
Von oben streift der Blick über eine karge, windige Küste. Ein schönes Panorama.
Es wäre noch schöner, wenn nicht deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg auch an dieser Stelle Betonbunker gebaut hätten. Die kreisrunden Kasematten, in denen sich vor über 60 Jahren wohl Geschütze drehten, sind heute gut begehbar.
In tausend Jahren wird es über Deutschland in der Wikipedia heißen: „Mitteleuropäischer Staat. Bekannt für Bier, Brot, Beethoven, Bedenkenträgertum sowie tausende von Betonbunkern an fast allen Küsten Westeuropas.“
Die Norweger haben das Beste daraus gemacht. Eine Kompassrose weist den Weg zu Städten in allen Himmelsrichtungen.
Es ist Tradition, die kleinen Klebeschildchen, die man als Eintrittsnachweis bekommt, am Einlass wieder zurückzugeben, äh, -kleben.
Ein ganz anderes Schild weist unten auf dem Parkplatz auf ein anderes Ziel: ans entgegengesetzte Ende des Landes. 1680 Kilometer Luftlinie sind es bis zum Nordkapp; wer den Landweg nimmt, ist noch einmal um die Hälfte länger unterwegs. Mailand liegt näher.
Drei Wochen sollte man für Hin- und Rückweg einplanen, heißt es. Jedenfalls, wenn man unterwegs mal ein Foto machen möchte. Glaube ich gerne.
Vom Nordkapp träumt jeder, der schon mal am Gasgriff eines Motorrades gedreht hat. Auch der Schreiber dieser Zeilen. Dieses Jahr wird es nichts mehr. Aber die nächste Reise nach Norwegen ist schon fest im Kopf.