Es ist ein schöner sonniger Morgen an diesem Sonntag, 12. August 2012, gegen 9 Uhr 15. Auf dem Gelände der Esso-Tankstelle am Aachener Europaplatz steht eine Gruppe jüngerer Menschen um eine Gruppe älterer Autos herum. Karten werden auf ausgebreitet, gute Ratschläge erteilt, Gepäck umgeräumt. Wohlgefüllte Picknickkörbe und Packtaschen lassen Großes erahnen.
Irgendwann ist alles geklärt, gepackt, besprochen – Abfahn! Vorweg Dirks 280 TE, dahinter Sebastians frisch restaurierter 230 C, gefolgt vom 600 SEL von Lars. Am Schluss der kleinen Kolonne dasjenige Fahrzeug, das heute zwar die mit Abstand niedrigsten Kilometerkosten haben wird, aus ebendiesem Grunde aber auch ganz hinten fahren muss: mein 240 CD, proudly powered bei Rapsöl. Unser Ziel: Luxemburg. Sebastian hat die ganze Sache angeleiert, die Route gelant und alle eingeladen. Es ist, wenn man den Erinnerungen der Mitfahrer glauben schenken darf, gerade einmal die zweite offizielle Ausfahrt des Aachener Stammtischs des VdH (Verein der Heckflossenfreunde).
Über Lichtenbusch geht es die E40 herunter, dann die E42 an Verviers vorbei, wo wir der Autobahn Lebewohl sagen und uns auf schmalen belgischen Landstraßen durch die herrliche Ardennenlandschaft nach Süden vorarbeiten. Da unser Kolonnenführer netterweise nicht gar so aufs Tempo drückt, bleibt Gelegenheit für den einen oder anderen Schnappschuss – etwa von dieser fröhlichen jungen Dame, die hinter einem artig aufgestellten Warndreieck eine Kuh am Straßenrand von ihrer Milch befreit und den vorbeirauschenden Altfahrzeugen begeistert zuwinkt.
Meine Fahrposition am Ende der Gruppe birgt bei der gegebenen Fahrzeugwahl den Nachteil, dass hochaufragende Kirchen und mächtige Natursteinhöfe mit einem nicht minder ausladenden Fahrzeugheck um die vorhandenen Pixel auf meinem Kamerachip konkurrieren müssen. Aber sehen wir’s positiv: Immerhin ist es nicht die Coupé-Version des W140, die da vor uns die Szenerie befährt…
Die schmalen Straßen führen uns abwechselnd über solch offenes Weideland und romantisch gewundene, bewaldete Täler. Sie sind manchmal kurvig und manchmal schnurgerade, manchmal bequem und manchmal, äh, belgisch. Manchmal überholen Motorradfahrer uns, manchmal wir ein Rudel Radsportler. Eins aber sehen wir nie, fällt uns im Nachhinein auf: Ampeln.
Schließlich überqueren wir die Grenze zu Luxemburg (was sich, wie um das Vorurteil zu bestätigen, von einem Meter auf den anderen an der Qualität der Straßendecke bemerkbar macht). In Wiltz steigt ein alter Studienfreund von Dirk zu, der uns zu einem kaum zugänglichen, aber umso reizvolleren Aussichtspunkt lotsen will. Über schmale Feldwege und vorbei an gestikulierenden Bauern geht es in einen Wald, wo die Aachener Sternenflottille zwischen schattenspendenen Bäumen vor Anker geht. Ein an den Heckwischer geklemmter Zettel mit einer Erklärung in Lëtzebuergesch macht etwaigen Ordnungskräften deutlich, dass wir die Erlaubnis des örtlichen Landwirts haben, zu sein wo wir sind.
Etwa 200 Meter Fußweg dahinter öffnet sich der Wald und wir erreichen die kleine Lichtung des Aussichtspunktes Tempelskamp, wo ein hölzerner Aussichtsturm und einige Bänke mit Tischen die müden Reisenden begrüßen. Was für eine Aussicht!
Nach Süden hin ringelt sich der Obersauerstausee durch die Landschaft, ein künstliches Gewässer, das fast drei Viertel Luxemburgs mit Trinkwasser versorgt. A propos Wasser: Jetzt ist es Zeit…
…für unser Picknick, nachdem wir gut zweieinhalb Stunden in den weitgehend unklimatisierten Wägen gesessen haben. Dirks Bekannter Adrian zeigt uns, was luxemburgische Gastfreundschaft bedeutet und verteilt kühles luxemburgisches „Simons“-Bier in hübschen weißen Blechflaschen, Riesling-Pasteten und Küchlein. Wir würden am liebsten gar nicht mehr weg…
…und beneiden die Badenden unten am Seeufer kein bisschen. Doch nach einer guten Stunde sind wir bereit zu neuen Abenteuern.
Auch Luxemburg hat reichlich landschaftliche Reize, von den gepflegten hübschen Dörfchen und den diversen Burgruinen ganz zu schweigen.
Hinter jeder Kurve scheint eine neue Burg vom Berg zu dräuen. Doch es gibt noch andere faszinierende Bauwerke, etwa zwei Stahlträgerbrücken älteren Baujahrs. Es rumpelt mächtig, als unsere vier Stuttgarter Schwermobile über die schmale einspurige Fahrbahn zockeln.
Nach mehreren Kilometern durch bewaldete Berglandschaft zeigt sich hinter einer Linkskurve dieser Anblick.
Es ist die Burg Vianden, eine imposante Stauferfestung aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die in den 80er-Jahren in ihren heutigen Zustand restauriert wurde. Wir halten im kleinen Dorf zu ihren Füßen, doch mit freien Parkplätzen sieht es in diesem Touristenmagnet mau aus. Nach kurzer Fotopause müssen wir uns notgedrungen wieder auf den Weg machen. Doch ein Ziel haben wir noch vor uns, auch wenn es von außen weit weniger eindrucksvoll aussieht.
Das nahegelegene Pumpspeicherwerk Vianden, mit über 1000 Megawatt Leistung eines der stärksten in Europa. Dabei handelt es sich nicht nur um ein normales Wasserkraftwerk, sondern um eine Art Stromspeicher: Wenn wenig Strom benötigt wird, zum Beispiel nachts, wird Wasser in einen Stausee gepumpt. Dieses hochgepumpte Wasser ist nichts anderes als gespeicherte Energie, die zu Spitzenzeiten wieder abgerufen werden kann. Weil sich mit solchen Pumpspeicherwerken der erzeugte Strom speichern lässt, sind sie ein wichtiger Bestandteil bei der Energieerzeugung aus Sonne und Wind.
Das Werk Vianden an der Ourtalsperre wurde 1964 eingeweiht. Heute halten der Staat Luxemburg und die deutsche RWE je 40 Prozent der Anteile. Der erzeugte Strom wird ins europäische Verbundnetz eingespeist.
Der Eingang ist offen. Über einen langen unterirdischen Schacht gelangt man in einen Besucherraum, von dem aus man in die 330 Meter lange und 25 Meter hohe Kaverne mit den neun gewaltigen Turbinen sehen kann. Eine zehnte befindet sich in einem Seitental, eine elfte ist gerade in Arbeit.
Der Leitstand mit seiner Holzverkleidung, den mechanischen Schaltern und analogen Anzeigen erinnert ein wenig an Kernkraftwerke aus dem früheren Ostblock.
Draußen auf dem Besucherparkplatz bietet sich noch Gelegenheit für dieses aussagekräftige Foto: Kraftpakete vor einem Kraftwerk. Dann trennen sich die Wege unserer Gruppe: Dirk und Lars machen einen Schlenker durch Luxemburg, Sebastian und mich zieht es heim gen Aachen beziehungsweise Köln.
Wir fahren hinter Weiswampach über die Grenze, schließlich bei St. Vith auf die Autobahn und zurück nach Aachen. Unterwegs schießt Sebastians Freundin dieses schöne Foto meines Dieselboliden. Gegen 18.30 Uhr kurvt der Moorbraune auf den Europaplatz ein, eine Stunde darauf bin ich zurück in Köln – und reichlich geschlaucht von einer kurzen Nacht und vielen hundert schönen Kilometern Straße durch drei Länder.
Soviel ist aber sicher: In Luxemburg waren wir nicht zum letzten Mal. Das kleine Land verdient, dass man es mit viel Zeit im Kofferraum erkundet. Und irgendwann gibt es auch bestimmt mal einen freien Parkplatz an Burg Vianden.
Im August 2009 kommt der Moorbraune zum dritten Mal in das Land, für dessen Besuch ich ihn einst, 1993, gekauft hatte: nach Schottland. Kreuz und quer durch die Highlands waren wir damals gefahren, während des Studienjahres in Glasgow und bei einer zweiten Reise im September 1995. Kreuz und quer – nur in eine Ecke nicht. Das wollte ich jetzt, 2009, nachholen: Es ging in den äußersten Nordwesten der britischen Insel – bis zum Cape Wrath.
Aachen, Dienstag, 18. August 2009. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Vorne sind neue Stoßdämpfer von Wolfi eingebaut, im Fünfganggetriebe gluckert frisches Öl, die Ventile sind eingestellt, der Auspuff ist neu ausgerichtet, der Endtopf gewechselt, ein neues Radio eingebaut, eine blinkende neue Kühlermaske ist montiert, der Tacho auf den relativ korrekten Stand von 324.085 km eingestellt und der Lack hat eine Nano-Politur feinster Güte bekommen.
Schottland. Wir waren schon zweimal da, der Benz und ich. Einmal von September 1993 bis Juli 1994 für das Studienjahr in Glasgow – den Wagen hatte ich damals gerade erst gekauft. Dann, mit einem Jahr Abstand, noch einmal für einen Kurztrip im September 1995, mit dem frisch eingebautem (ersten) Dieselmotor.
Es war ein anderes Leben damals: Ich als Student der Rechtswissenschaften mit wachsender Unsicherheit in Bezug auf die Studienfachwahl. Der Benz als spürbar aus der Zeit fallendes, überteures Prestigemobil, überall wachsende Irritation in Bezug auf die Lackfarbe erzeugend.
Beim zweiten Besuch, 1995, war das Coupé mit é 14 Jahre alt. Jetzt, 2009, ist es 28 – also genau doppelt so alt wie damals. Seinerzeit hatte ich keinerlei Bedenken, mit ihm die Highlands unsicher zu machen – ein Mercedes mit 180.000 Kilometern auf der Uhr ist bekanntlich gerade einmal eingefahren. Aber wie gut wird er heute zu Fuß sein? Zwar sind seit der Wiedererweckung 2005 – nach knapp vierjährigem Dornröschenschlaf – reichlich Geld und Ersatzteile in die Restaurierung geflossen. Aber was kann nicht alles kaputtgehen zwischen Dover und Cape Wrath?
Dienstags, 8.15 Uhr. Wir verlassen Aachen – der Benz, die Beifahrerin und ich, der sich seine nagenden Zweifel nicht anmerken lässt, ob es mit der statistischen Wahrscheinlichkeit eines Defekts alle 1 Million Kilometer noch hinhaut, mit der Mercedes seine Dieselmodelle vor 30 Jahren beworben hat.
Doch die Reise verläuft völlig problemlos. Jedenfalls in der ersten Stunde. Nach 150 Kilometern auf dem Brüsseler Ring stehen wir allerdings im berühmten Brüsseler Ringstau. So etwas ist dann besonders unangenehm, wenn man weiß, dass die Zwölf-Uhr-Fähre darauf keine Rücksicht nehmen wird. Außerdem sind moderne Navigationsgeräte (zum Beispiel „Knubbel“, mein geliebtes Garmin i3 von 2001) in der Lage, jede neue Minute Verzögerung bei der Ankunftszeit in Dünkirchen genau anzuzeigen. Gottseidank, hinter Brüssel löst sich der Stau auf. Nur um auf der A18, der flandrischen Küstenautobahn, wieder einzusetzen. Wir quälen uns in dickem Verkehr nach Westen und ignorieren Ortsnamen wie De Panne.
Es reicht nicht. Es kann auch nicht reichen. Trotz Sprints auf dem Zubringer zum Fährhafen (ein couragiert gefahrener 240 D kann in Kreisverkehren auf französischen Landstraßen durchaus die Reifen quietschen lassen), erreichen wir die Terminals zwar noch kurz vor dem Ablegen der Fähre um etwa zwei Minuten vor 12. Doch der Mitarbeiter der Fährgesellschaft schüttelt bedauernd den Kopf: Zum Einchecken seien wir leider zu spät. Immerhin, der Zöllner winkt uns anstandslos durch, nachdem er sich – im Ernst! – über den Dieselmotor im Coupé gewundert hat.
Der Bug der Fähre ist immer noch hochgeklappt. Sollte am Ende…?
Der Diesel brüllt auf und stürmt mit der Wut der Verzweiflung die Rampe hoch. Metallplatten poltern. Ein überraschter Einweiser zeigt auf die dritte Spur von rechts. Hinter einem Wohnmobil kommt der Benz zum Stehen. Motor aus. In der plötzlichen Stille senken heulende Elektromotoren den Bug der Fähre ab. Einen glücklichen Moment lang ist die Zufriedenheit von Auto und Insassen deutlich zu spüren.
Alea iacta est. Wir sind auf See.
Im Duty-Free-Shop auf dem Schiff gibt es neben günstigem Single Malt auch diese originellen Aufkleber für den britischen Autofahrer zu kaufen. Für nur 3,49 Pfund die Gewissheit, in kontinentalen Kreisverkehren immer richtig („right“) abzubiegen – wenn das nicht sein Geld wert ist!
Zwei Stunden lang dauert die Überfahrt, dann rollt das schokoladigste Dieselcoupé westlich des Urals zum dritten Mal auf britischen Boden. Was für ein schönes Gefühl, nach so vielen Jahren zurückzukehren – „dreimal ist Oldenburger Recht“, sagt man da, wo ich herkomme. Erstaunlich unproblematisch wuseln wir uns durch örtliche Links- und Kreisverkehre. Dann geht’s auch schon auf die Autobahn, Richtung Norden. Bloß: Was ist mit Knubbel los? Der kugelförmige Wegweiser an der Windschutzscheibe scheint keine Satellitenverbindung zu bekommen, leitet uns durch Niemandsland. Siedend heiß fällt mir ein: Er hat zwar die Straßenkarten für Kontinentaleuropa im Speicher. Doch seit der Spanienfahrt mit dem Motorrad 2008 ist dort zwar Südeuropa geladen, nicht Großbritannien. Ohne Navi durch fünf Länder? Ist so etwas im Jahr 2009 überhaupt noch erlaubt?
Das Handy hilft. Mein HTC Orbit hat eine TomTom-Navigation installiert, die zwar eigentlich nur Deutschland, Österreich und die Schweiz kann, vom Rest Europas aber auch die Hautpstraßen verinnerlicht hat. Was später im Fall des ausgedünnten schottischen Straßennetzes heißen wird, dass praktisch jede noch so sekundäre Single Track Road vermerkt ist. Wäre TomTom wohl zu peinlich geworden, nördlich von Gretna Green nur noch Heideland zeigen zu können.
Über Englands grüne Hügel kommen wir flott voran. Um den Brüssel-Effekt zu vermeiden, umfahren wir London weiträumig und ziehen ein gutes Stück weiter östlich auf der A1 an Cambridge und Peterborough vorbei. Das funktioniert auch wunderbar – bis zu einem Nest namens Worksop, wo die Autobahn gesperrt ist und wir wieder mal in einem Stau landen. Es herrscht inzwischen Feierabendverkehr. Unendlich langsam quälen wir uns in einer Blechschlange durch eine Ortschaft nach der anderen. Wie weit kommen wir heute noch? Da ich in der vergangenen Nacht kaum geschlafen habe (das Packen und Erledigen letzter Dinge dauert irgendwie immer viel länger als geplant), bin ich inzwischen todmüde. Die Beifahrerin bucht mobiltelefonisch ein Zimmer in einem Hotel der Kette Travelodge in Sheffield. Eigentlich wollten wir ja überall nur in Bed & Breakfasts einkehren, schon des Geldes wegen.
Wir erreichen die Stadt am späten Abend. Ich bin inzwischen dermaßen fix und fertig, dass ich zweimal im Kreisverkehr rechtsherum abbiege. Upps. Schade, dass es auf der Fähre keine Roundabout-Aufkleber für Continental Drivers zu kaufen gab. Und schade, dass es ohne Navi und Stadtplan so unendlich lange dauert, in einer Riesenstadt wie Sheffield ein Hotel in einer Seitenstraße zu finden. Nach stundenlanger Suche in irgendwelchen Industriegebieten sind wir endlich da – und ich so erledigt wie selten. Schnell noch ein original englisches Abendbrot (also vom Take-Away-Chinesen), und ab in die Federn. 800 Straßenkilometer liegen hinter uns – das war ein kleines bisschen weiter als nötig.
Mittwoch, 19. August 2009, zweiter Tag. Ziemlich genau zwölf Stunden nach dem Einschlafen werden wir wach. Kurz vor der mittäglichen Schließung des angeschlossenen „Little Chef“-Schnellimbisslokals (einer ansonsten weitgehend verzichtbaren Imbisskette) ergattern wir noch ein original englisches Frühstück:
Der Eishockey-Puck da oben auf dem Teller ist übrigens Black Pudding, Blutwurst. Natürlich in der Pfanne frittiert, so wie die Würstchen, die Eier, die Tomaten, die Kartoffeln und die Toastbrotscheiben daneben. Heartburn, thy name is English cuisine.
Der nächste Teil der Strecke gestaltet sich überraschend malerisch: Der Peak District Nationalpark mit seinen Hochmooren und Wäldern erinnert schon ein wenig an Schottland. Die Beschilderung ist von, äh, britischer Zuvorkommenheit.
„Bitte verunfallen Sie hier“ – das gibt es zu Hause in der Eifel nicht.
Schließlich erreichen wir wieder die Autobahn. Und auf ihr, einige Stunden später, endlich das Land der Pikten und Scoten.
„Welcome to Scotland“ – praktisch auf den Kilometer genau passt sich das bis dato eher heiter-sonnige Wetter dem Klischee an. Den berühmten Heiratsort Gretna Green passieren wir schon in bestem schottischen Gepladder.
Einzige Abwechslung auf dem Weg in die Metropole Glasgow sind die freundlichen Mahnungen der Autobahnschilder: „Please Use Seatbelts“ oder „In Town Slow Down“. Da hat man wenigstens was zu lesen, die Lowlands sind ja nicht sooo reich an Naturwundern.
In Glasgow schlagen wir unser Quartier wiederum in einem Travelodge auf. Es steht am Rande einer früheren Industriebrache am Ufer des Clyde, auf der inzwischen ein Vergnügungsviertel erblüht ist. Zu Essen gibt es heute nicht Chinesisch, sondern Mexikanisch. Dann ist auch Tag Zwei der Reise zu Ende. Da sind wir wieder, 14 Jahre später. Ob der Benz sich erinnert?
Donnerstag, 20. August, dritter Tag. Glasgow! Fast ein Jahr lang meine Heimatstadt. Damals noch mit deutlichen Spuren von Stahlkrise, Werftenkrise, Kohlekrise, hat sich die alte Dame am Clyde heute mächtig gemausert. Neubauten allüberall, moderne Geschäftsgebäude, Einkaufszentren. Ganze Stadtviertel erkenne ich nicht wieder.
Immerhin, der berühmte Willow Tea Room in der Sauchiehall Street ist noch da.
Gestaltet von Charles Rennie Mackintosh, Glasgows bekanntestem Jugendstilarchitekten, bietet die Galerie im Obergeschoss (und dem Room de Luxe darüber) mit seinem pastellfarbenen Interieur und dem typischen Mackintosh-Mobiliar eine einzigartige Atmosphäre – hier ist alles wie vor über hundert Jahren (wahrscheinlich inklusive der nervig brummenden Lüftung).
Und der Arbroath Smokie ist über jeden Tadel erhaben. So sieht ein schottisches Frühstück aus, liebe Leute von südlich der Grenze.
Damit im Bauch lässt sich gut die Stadt erkunden. Ein Blick die West George Street hinunter auf die St. George’s-Tron Church. Glasgows Mitte hat einen gitterartigen Grundriss.
Die City Chambers am George Square – das Rathaus spiegelt den Anspruch der Stadt, nach London die Number Two in Queen Viktorias Empire zu sein…
…auch im Inneren wieder. Und das ist nur eins von zwei Treppenhäusern. Im Zentrum des Platzes, benannt nach His Madness King George III, thront auf einer Säule –
genau, nicht der König, sondern Schottlands Nationaldichter Sir Walter Scott (links, der mit dem nachdenklichem Blick). Die Hannoveraner Königsfamilie war zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Platzes nämlich gerade ähnlich populär wie ihre Nachfahren unmittelbar nach dem Unfalltod einer gewissen Diana Spencer.
Mein alter Campus: Strathclyde University. In einer siebeneinhalb Quadratmeter, ähm, großen Studentenzelle in der Wohnanlage Birkbeck Court habe ich von Oktober 1993 bis Juni 1994 gehaust gelebt. Und jeden Tag Angst um den Benz gehabt, der, wann immer irgendwo ein paar Quadratmeter frei waren, verbotenerweise auf dem Campus übernachtete. Bis irgendwann ein freundlicher, aber bestimmter Brief der Verwaltung an den Eigentümer des „Brown Mercedes Car“ unterm Scheibenwischer klemmte: bitte fürderhin nicht mehr die Zufahrt zum „Lord Todd“ zuparken, dem Uni-Pub. Dessen Mitarbeiter sahen das kontinentale Sternmobil dagegen mit Wohlwollen – „it’s a man’s car“, sage einer von ihnen mal zu mir. Das entschädigte sogar für den an einem anderen Tag auf den staubigen Lack gemalten Spruch „RICH CUNT“, den ich mal besser unübersetzt lasse.
Zurück ins Jahr 2009. Wir beenden den Tag à la recherche du temps perdu mit einem letzten Bummel die Buchanan Street hinunter. Dabei wird natürlich nicht der Capucchino im immer noch wunderschönen Jugendstil-Einkaufszentrum Princes Square vergessen.
Zurück ins Hotel. Nach dem englischem Abendbrot und Frühstück des Vortags und dem schottischen Brunch heute Morgen ist uns jetzt natürlich nach… ach ja, Mexikanisch. Denn das ist das einzige Restaurant, das abends in Hotelnähe noch aufhat.
Freitag, 21. August 2009, vierter Tag. Zeit, die Stadt zu verlassen. Und zwar wie vor 15 Jahren über die Great Western Road, die A 82, die uns über die Vororte Drumchapel, Clydebank, Old Kilpatrick und Dumbarton…
…an die Ufer des vielbesungenen Loch Lomond führt, Schottlands zwar nicht größtem Binnensee (das ist der Loch Ness), dafür aber angeblich dem schönsten des Landes.
Das „Ben Lomond“, eine urige Kneipe in einer ehemaligen kleinen Kirche, lädt zum Frühstück ein. Auf dem Parkplatz beweist der Moorbraune, wie perfekt er sich auch nach all den Jahren noch den örtlichen Gegebenheiten anpassen kann.
Bei Tarbet verlassen wir Loch Lomand und A 82, um nach Westen auf die A 83 abzubiegen. Sie folgt dem Nordausläufer des Loch Long und steigt schließlich das Glen Croe zum Rest-and-be-thankful-Pass auf.
Seinen schönen Namen verdankt er den Soldaten, die Ende des 18. Jahrhunderts die ursprüngliche Militärstraße durch die Berge bauten. Sie ist hier im Bild noch unterhalb der modernen Landstraße zu sehen.
Dann geht es wieder bergab in Richtung Küste. Etwa hundert Straßenkilometer von Glasgow entfernt liegt Inveraray. Das schmucke, ebenfalls gegen Ende des 18. Jahrhunderts neu angelegte Zentrum der Argyll-Region, ist mit seiner weißen Seefassade am Ufer des Loch Fyne ein architektonisches Schmuckstück. Der fünfte Duke of Argyll ließ das Städtchen vom Architekten Robert Mylne buchstäblich am Reißbrett entwerfen und verwirklichen.
Hauptattraktion sind ein original georgianisches Gefängnis und Inveraray Castle, das Schloss der Herzöge von Argyll, ein Sproß des mächtigen, wenn auch nicht bei jedem beliebten Clans der Campbells. Nicht alle Herrschaftssitze des Landes sind in so schöner Verfassung.
Zu spät gesehen und gerade noch aus dem Autofenster fotografiert: Kilchurn Castle am Nordende des Loch Awe – wohnen möchte man da nicht, aber was für eine Prachtruine!
Das Leben ist eine Landstraße. Begeistert jagt der Diesel durch das Land der Glens und Bens. Schließlich erreichen wir Loch Linnhe, sozusagen die südliche Verlängerung des quer durchs Land verlaufenden Loch Ness.
Castle Stalker auf seiner kleinen Insel dort zählt zu den am hübschesten gelegenen Burgen Schottlands. Dass der malerische Turmbau als „Schloss von Aaaargh“ in der Schlussszene von Monty Pythons Rittern der Kokosnuss auftaucht, darf man in romantischen Momenten touristischer Zweisamkeit aber auch unerwähnt lassen.
Über Fort William, den Loch Lochy (heißt wirklich so!) und Fort Augustus erreichen wir endlich den ach so legendären Loch Ness. Hätten sich die findigen Leute von Drumnadrochit nicht den Gag mit dem Ungeheuer ausgedacht, müssten sie Werbung damit machen, am langweiligsten See Schottlands zu leben, und wer weiß, ob das den Tourismus genauso angekurbelt hätte.
Ach ja, und es gibt da noch Urquhart Castle. Sollte es jemals geöffnet sein, wenn ich dran vorbeifahre, werde ich mit Freuden den gewiss horrenden Eintrittspreis latzen und es mir endlich mal angucken, ich schwöre. Ich rechne aber nicht damit, dass das je der Fall sein wird. Urquhart Castle hat immer geschlossen. Immer.
Der Rest des Abends vergeht mit erfolgloser Suche nach einem halbwegs bezahlbaren Bed & Breakfast in Inverness. Ich weiß schon, warum ich die Ostküste nicht mag: flach, teuer, leicht snobistisch und voller Schlipsträger. Golfspieler sehen das sicher anders, aber ich bin und bleibe ein West Coast Man, aye, Sir. Am Ende gebe ich mich geschlagen – es wird zum dritten Mal ein Travelodge. Im Vereinsheim des nahegelegenen „Fairways“ Golf Club gibt es ein Absackerbier.
Samstag, 22. August 2009, fünfter Tag. Frühstück serviert ebenfalls der Golf Club. Gegen Mittag (oh, warum kommt man eigentlich nie eher los?) geht es endlich aus Schottlands nördlichster Stadt hinaus, über die große Brücke über den Beauly Firth, die A 9 hoch und über den Cromarty Firth. Dort ist für uns das Zivilisationsgefühl auch schon wieder zu Ende, wir biegen links ab auf die buckelige (aber immerhin noch zweispurige) B 9176.
Schließlich kommt der Dornoch Firth in Sicht – und in was für eine Sicht.
Wir halten an einem Aussichtspunkt an. Ringsum erstreckt sich blühende Heide. Obwohl ich schon dreimal in Schottland war, sehe ich das berühmte Naturschauspiel zum ersten Mal in voller Pracht: Lila, soweit das Auge reicht. Am Rand des Gestrüpps ein niedergelegter Blumenstrauß – was wohl der Anlass sein mag?
Ein Stück hinter Bonar Bridge – die Straße heißt wieder A 836 – locken Schilder zum „Falls of Shin Visitor Centre„. Wenn ich unterwegs bin, ist Spontaneität angesagt: Also wird abgebogen. (Es ist für diesen Reisestil natürlich hilfreich, selbst am Steuer zu sitzen.)
Die Falls of Shin entpuppen sich als veritabler Wasserfall (wenn sie es auch nicht mit dem Niagarafall aufnehmen können). Was sie so besonders machen, sind die Lachse, die auf dem Weg zu ihren Laichgründen meterhoch aus den Stromschnellen springen.
Alle paar Minuten jumpt ein solcher Kaventsmann aus dem tosenden Wasser. Viele fallen zurück, probieren es wieder und wieder. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Tiere gegen die stürzenden Wassermassen anschwimmen können. Und all das, weil ihr Instinkt sie den Fluss hinauf treibt. So etwas habe ich noch nie gesehen – das war den Abstecher absolut wert!
Bald dahinter wird es dann endlich einspurig. Und einsam. Wir sind im Sommer hier – wie mag es wohl im Winter aussehen? Ohne Landrover und ordentlich Brennholz ist man in dieser Gegend sicher aufgeschmissen.
Immerhin sind wir offensichtlich nicht die ersten Kontinentaltouristen in dieser Gegend…
Gegen 19 Uhr erreichen wir nach etwa 200 Kilometern Fahrt Durness an der Nordküste, das letzte größere Dorf vor dem Cape of Wrath.
Nach dem Einchecken in einem sehr netten B & B wandern wir zur örtlichen Attraktion, der Smoo Cave. Die Auflösung der Kamera ist leider nicht groß genug, um die Myriaden von Mücken zu erfassen, die uns dabei umschwirren. Auch diese typisch schottische Attraktion ist mir in ihrer ganzen Herrlichkeit bislang entgangen. Es ist unerträglich.
In der rund 60 Meter langen, 15 Meter hohen und 40 Meter breiten Höhle stürzt der „Allt Smoo“ durch ein Loch in der Decke, in das der Räuber McMurdo angeblich seine Opfer stieß.
Sonntag, 23. August 2009, sechster Tag. Am Morgen fahren wir zum Fähranleger bei Keoldale, von dem aus uns ein Boot über den Kyle of Durness zum Cape Wrath bringen soll. Das Boot ist tatsächlich ein winziges Motorboot. Auf dem Schild am Fähranleger hat jemand, offenbar nach wiederholten Nachfragen, mit einem Edding aufgemalt: „Reason for small boat: very low tides“. Am anderen Ufer des Kyle erwartet uns ein rostiger Mercedes-Minibus, der uns unter launigen Erklärungen eines Führers durch eine völlig menschenleere Landschaft schaukelt. Rehe grasen friedlich neben dem Weg. Gut 18 Kilometer geht es durch die Heide, dann sind wir endlich da: Am Cape Wrath, dem nordwestlichsten Punkt Großbritanniens.
Der prächtige weißgestrichene Leuchtturm wurde 1828 von Robert Stevenson erbaut und war bis 1998 bemannt. Ansonsten gibt es hier nicht viel – in einem Raum kann man Kaffee und Snacks bekommen, doch alles wirkt eher ambulant. Die Frage nach dem Vorhandensein von Toiletten beantwortet der Guide mit einem fröhlichen „no, but we have a nice selection of walls“.
So sieht es aus, das Ende der Welt (nordwestliche Kante). Unwirtliche Gegend. Wir irren eine Weile über die kargen Felsen, bis schließlich der Bus wieder abfährt. Auf der Rückfahrt sehen wir noch ein paar Robben, die sich auf einer Sandbank aalen.
Die A 838 bringt uns nach Südwesten, in Richtung des etwa 100 Kilometer entfernten Ullapool. Loch reiht sich an Loch – Loch Taebaidh, Loch Inchard, Lach a‘ Bhagh Ghainmich, Loch a‘ Bhadaid Daraich, Loch Dubhaird Mor, Loch Aillt na h-Airbhe, Loch a‘ Chairn Bhain, Loch Gleann Dubh. Was für eine herrlich dunkle und wohlklingende Sprache das Gälische ist.
Unterwegs bietet sich an einem Rastplatz entlang der North & West Highland Tourist Route dieses herrliche Panorama. Schottlands nördliche Westküste wird für mich immer eine der liebsten Ecken der Welt bleiben.
Und Burgruinen gibt es natürlich auch. Auf Ardvreck Castle lebten im 15. Jahrhundert die MacLeods of Assynt. Das Schloss soll von diversen Geistern bespukt werden, darunter die weinende Tochter eines MacLeod-Clanchefs, die sich im Loch Assynt ertränkte, nachdem ihr Vater sie mit dem Teufel verheiratet hatte, um seine Burg zu retten. Noch heute sollen Geister und geheimnisvolle Lichter in den Ruinen zu sehen sein und Autofahrer berichten von in der Nacht entgegenkommenden Scheinwerfern, zu denen kein Wagen gehört.
Am späten Nachmittag erreichen wir das Fischerdörfchen Ullapool, mit seinen gut 1300 Einwohnern so etwas wie die Metropole der nördlichen Westküste, denn danach kommt bis Durness rein gar nichts mehr. Die schwarz-weiß gestrichene Fähre „Isle of Lewis“ der Linie Caledonian MacBrayne verbindet das Festland mit den äußeren Hebriden. Nach Stornoway auf Lewis bin ich 1994 einmal gefahren, um die Doppelinsel auf einem gemieteten Mountainbike zu umradeln. Ein tolles Erlebnis. Heute parkt der Benz wieder auf der Uferstraße, auf der er auch damals drei Tage lang auf meine Rückkehr wartete.
Im Fischrestaurant „The Chippy“ gibt es grandios gutes Seafood. Der Tag klingt mit einer Flasche 2007er Chardonnay aus. Soll keiner sagen, sie hätten keine Kultur da oben in den Highlands…
Montag, 24. August 2009, siebter Tag. Strahlende Sonne scheint ins Zimmer unseres Bed-and-Breakfast. Auf dem Loch Broom glitzert das Wasser. Draußen schwirrt ein Schwarm ausgelassener kleiner Vögel durch die blühenden Hecken, die den Parkplatz vom Strand abtrennen. Vor unseren Augen legt wieder die „Isle of Lewis“ ab.
Auf der A 835 halten wir nach Süden. Das nächste Ziel wird einer der Höhepunkte der Reise: die Hebrideninsel Isle of Skye. Am Loch Glascarnoch geht es zunächst wieder ein Stück weit nach Osten.
Die Landschaft verändert sich, wird grüner, saftiger. Und touristischer, wie uns diese schildgewordene Ermahnung an einem Rastplatz verrät. Schließlich öffnet sich das Land zur Küste: Loch Shieldaig und Loch Torridon spiegeln das Blau des Himmels wieder. Dahinter: die offene See.
Ein Stück hinter Shieldaig schließlich zweigt von der A 896 eine winzige unscheinbare Straße nach rechts ab. „Applecross 38“ steht drauf.
Das winzige einspurige Sträßchen folgt jeder kleinen Bodenwelle, umkurvt jeden Kiesel auf der Halbinsel Applecross, einer vom Rest des Landes ziemlich abgeschlossenen und der Isle of Skye zugewandten Gegend. Die einzige größere Niederlassung sind einige Häuser an der Hauptstraße, die zwar auf Landkarten als „Applecross“ verzeichnet sind, aber lokal nur „The Street“ genannt werden.
Nachdem sie länger dem nordwestlichen Verlauf des Loch Torridon gefolgt ist, knickt die Straße an der Nordspitze der Halbinsel ab und folgt der Küstenlinie nach Süden. Dabei bietet sich ein herrlicher Blick auf die Inseln Skye (hinten) und die ihr vorgelagerte Inselkette aus Rona, Raasay, Fladday und Scalpay.
Die auf der Hinfahrt gepflückten Wildblumen in der Vase am Armaturenbrett weichen einem Gruß aus der Heide. So friedlich es hier auch aussieht, im Winter zeigen die Highlands ein anderes Gesicht. Ein Schild „Road normally impassable in wintry conditions“ zeugt davon.
Hinter Applecross, Verzeihung, hinter „The Street“, knickt die Straße wieder nach links ins Landesinnere ab und erklimmt den über 2000 Fuß hohen Bergrücken Bealach na Ba. Die Wikipedia weiß, dass diese Route lange als eine der schwierigsten Straßen Schottlands bekannt war. Der Diesel muss arg brüllen, bis er die letzte der engen Serpentinen heraufgekraxelt ist. Und sein Fahrer rührt mächtig im Getriebe.
Es folgen einige der beliebten Straßenwarnungen Großbritanniens:
Das untere Schild ist so etwas wie eine lokale Berühmtheit. Der britische Autor Iain Banks lässt es sogar in einem seiner Romane vorkommen.
Schließlich taucht sie im Dunst auf auf, die mythenumwobene Insel Skye. Hierhin flüchtete der legendäre Bonnie Prince Charlie 1746, nachdem sein Jakobiteraufstand von den englischen Truppen bei Culloden niedergeschlagen worden war. Im Skye Boat Song wurde seine Flucht besungen:
Speed bonnie boat like a bird on the wing
„Onward“ the sailors cry
Carry the lad thats born to be king
Over the sea to Skye
Wir überqueren die neue Skye Bridge – als ich in den 90er Jahren zuletzt in Schottland war, fuhr hier noch Caledonian MacBrayne – und checken in Kyleakin in Mrs. Morrison’s B&B ein. Ein Stück weit die Uferstraße Kyleside herunter bietet ein Pub lärmende Unterhaltung für die Rucksacktouristen aus dem Backpacker’s – oh, war ich nicht selber mal als ein solcher hier, 1992 mit Interrail-Karte?
Einen letzten Punkt habe ich noch auf der Tagesordnung: einen Abstecher nach Elgol (gälisch: Ealaghol), einer dahingeworfenen Handvoll Häuschen rund um einen Anleger an der Westküste. Mit grandiosem Blick auf die Cuillin Hills, eine fast 1000 Meter hohe Gebirgskette. Ganz so einfach ist der kleine Abendausflug allerdings nicht: Es geht rund 35 Kilometer über eine sich windende Single Track Road an die Westküste, entsprechend langsam kommt man voran. Als wir schließlich die steilen Kurven zum Pier herunterkurbeln, geht die Sonne gerade im Nebel über den Cuillins unter.
Dann geschieht etwas Wundervolles: Mit ihren letzten Strahlen setzt die Sonne den diesigen Himmel in Brand. Minutenlang lang sind der verregnete Pier, die Häuser von Elgol und die Bergkette auf der anderen Seite des Sunds in einen einzigartigen, flammend rot-goldenen Schein getaucht. Niemals habe ich so ein Licht gesehen. Diesen Moment werde ich nicht vergessen, so lange ich lebe.
Wie verzaubert stehen wir da. Dann, von einer Sekunde auf die andere, ändert sich das Bild. Das Gelb der Sonne taucht hinter den Bergrücken ab, an den sich weiße Wolkenfetzen schmiegen. Es ist, als hätte jemand das Licht ausgeknipst – plötzlich ist es kalt und dunkel. Der Zauber ist vorüber, der magische Moment vorbei.
Ein weiteres Auto mit Touristen kommt über die Serpentinen herunter an den Pier gekurvt. Wenige Minuten zu spät – aber was ist ihnen entgangen! Zeit für uns, zu gehen. In kürzester Zeit wird es stockfinster. Den Rückweg müssen wir uns durch umherwandernde Herden von Schafen und Kühen erkämpfen.
Dienstag, 25. August 2009, achter Tag. Nun aber: Skye. Die größte der Hebrideninseln ist etwa 80 Kilometer hoch, 40 breit und so von Meerarmen zerklüftet, dass laut Reiseführer kein Ort auf ihr mehr als acht Kilometer vom Wasser entfernt ist.
Von Kyleakin fahren wir auf der A 87 über Broadford (ich werde immer an den leicht schmierigen Wirt denken müssen, der uns deutschen Studenten 1993 die Bedeutung von „Gherkins“ erklärte) bis zum Hauptort Portree, wo wir auf die A 887 abbiegen, die uns die Ostküste hinaufführt.
Die rund 50 Meter hohe Felsnadel Old Man of Storr hebt sich vor dem bewölkten Himmel ab. Das Wetter ist schottisch: Zwischen kleineren Regenschauern bricht immer wieder die Sonne durch. Alle vier Jahreszeiten an einem einzigen Tag, wie man so schön sagt.
Und dann diese Namen: Skye wird vom Meer in mehrere Regionen unterteilt, die sich wie Finger einer Hand in die See ausstrecken: Sleat im Süden, Minginish im Südwesten, Duirinish im Nordwesten, Waternish im Nordnordwesten und Trotternish im Norden.
Am Kilt Rock etwas weiter nördlich drängeln sich die Touristen. Als kurz die Sonne herauskommt, schimmert dieser Regenbogen, öhm, in hohem Bogen durch die Luft.
Schließlich schwenkt die Landstraße nach links, schneidet die Nordspitze von Trotternish ab und führt uns nach Duntulm an der Westküste.
Dort liegt, auf einer steilen Klippe über dem Atlantik, Duntulm Castle aus dem 14. Jahrhundert – oder das, was vom einstigen Sitz der MacDonalds of Sleat noch übrig ist, die sich hier über Jahrhunderte mit den MacLeods über die Inselherrschaft stritten. Als die MacDonalds nach 1730 endlich die Oberhand hatten, gaben sie die Burg auf und bauten einige Meilen weiter südlich einen neuen Stammsitz. Wer sich einige Zeit gegen den tosenden Wind gestemmt hat – man muss tatsächlich weit vornübergebeugt laufen, um nicht umgeweht zu werden -, kann es ihnen nicht verübeln. Was müssen die armen Menschen gefroren haben in ihren ungeheizten Räumen…
Einige Meilen weiter südlich zeigt das Skye Museum of Island Life, wie damals und bis vor noch gar nicht so langer Zeit die Menschen auf der Insel lebten: In solchen Crofts aus Natursteinen und Reet.
Auf dem Friedhof von Kilmuir daneben liegt das Grab der großen Flora MacDonald, die Bonnie Prince Charlie auf seiner Flucht das Leben rettete. 3000 Menschen sollen hier 1790 zu ihrer Beerdigung gekommen sein. Der berühmte Gelehrte und Schottlandreisende Dr. Samuel Johnson ließ später die Inschrift anbringen: „Her name will be mentioned in history / and if courage and fidelity be virtues / mentioned with honour“.
Auch Kirchen sind in der wechselvollen Geschichte Schottlands nicht sicher vor Zerstörung. Die Ruinen der Cill Chriosd oder „Christ Church“ an der Straße nach Broadford sind ein Beispiel. 1840 wurde das Gotteshaus aufgegeben, als in Broadford eine neue Kirche entstand. Auf dem Gelände liegen viele MacLeods begraben. An den Wänden der Kirche sind für mehrere Chiefs des Clans prächtige Epitaphe angebracht – etwa Norman, den 23. Chief (gestorben 1895) und Flora, die 28. Chefin (gestorben 1976).
Abends sind wir wieder bei Mrs. Morrison in Kyleakin. In einem Restaurant vor dem Ort genießen wir das originäre Essen des britischen Empires, nämlich die wundervolle indische Küche. Beim Essen überlegen wir: Ob wir noch einmal so einen herrlichen Sonnenuntergang über den Cuillin Hills erleben wie nach unserer Ankunft? Ein zweites Mal machen wir uns auf den gut 30 Kilometer langen einspurigen Weg hinunter nach Elgol. Keine Frage: Der Blick ist auch heute beeindruckend. Aber nichts, was sich mit gestern Abend vergleichen ließe.
Mittwoch, 26. August 2009, neunter Tag. Der Himmel ist trübe und es regnet, als wir Skye verlassen. Wenige Kilometer weiter den Loch Alsh hinauf wartet hinter dem Dorf Dornie das schottische Gegenstück zu Schloss Neuschwanstein: die wohl meistfotografierte Burg des Landes.
Eilean Donan Castle im Loch Duich, Stammsitz der Macraes, beim Jakobiteraufstand 1719 von drei englischen Fregatten zu Klump geschossen und erst nach 1911 von einem Macrae wieder aufgebaut. Unsterblich geworden als Kulisse in Filmen wie Highlander, Braveheart, Rob Roy und James Bond – Die Welt ist nicht genug.
Als ich 1992 als Rucksacktourist auf diesen Steinen herumkraxelte, war die größte Schwierigkeit, die Burg so zu fotografieren, dass auf den Fotos nicht die unmittelbar daneben verlaufende zweispurige Landstraße A 87 samt der Betonbrücke über den Loch auftauchte.
Das ist heute das kleinere Problem. Heute muss man sich verrenken, um nicht das ausgedehnte mehrstöckige Besucherzentrum ins Bild ragen zu lassen, das die Touristenhorden empfängt, die von Dutzenden teilweise ebenfalls mehrstöckiger Reisebusse angekarrt werden. Ich habe das Monstrum absichtlich nicht fotografiert. Im Inneren gibt es immerhin heißen Tee und eine kostenlose Spinnrad-Demonstration durch eine freundliche ältere Lady mit betörendem schottischen Akzent.
Dann setzen wir uns wieder ins Auto – und der Regen endgültig ein. „Heavy Rain and Flooding Forecast – drive with care“ warnt eine der verbreiteten Anzeigetafeln, und während der nächsten über 200 Kilometer durch die Highlands verlassen wir das Auto nicht mehr. Kurz vor Glasgow, das Wetter ist etwas aufgeklart, stoppen wir aber doch noch einmal im malerischen Örtchen Luss am Loch Lomond.
Fast jeder Brite kannte in den 80er-Jahren diese Häuser: als fiktives Örtchen Glendarroch in der Soap Opera „Take the High Road“ des Senders ITV. Selbst heute spielen einige Hausnamen noch auf die Glendarroch-Episode an. Sehenswert für Touristen ist – haha! – der Tourist Shop am Ortseingang: Mehr Kitsch und Krams rund um Tartan, Heide und Whisky sind kaum denkbar.
Kurz darauf erreichen wir Glasgow, wo uns ein weiteres Mal ein Travelodge-Hotel im Empfang nimmt. Als wir das Gepäck aus dem Moorbraunen laden, halten wir das Tier erst für einen Hund, das das zutraulich zwischen den Autos herumstromert.
Es ist ein zahmer Fuchs. Wie wir später erfahren, sind die schlauen Rotröcke als Kulturfolger längst ein vertrauter Anblick in – nicht nur dieser – Großstadt. Wenn sie nicht gerade von neugierigen Menschen gefüttert werden, finden sie genug zu Essen in Mülltonnen.
Am nächsten Tag besuchen wir meinen Bloggerfreund Kurt und seine Freundin Grace. Beide sehe ich zum ersten Mal, nachdem wir diverse Mails gewechselt und miteinander telefoniert hatten. Kurt, der aus Aachen nach Glasgow ausgewandert ist, schreibt Geschichten aus seinem bewegten Leben in den Leserblogs von Aachener Zeitung/Aachener Nachrichten. Wir verstehen uns auf Anhieb.
Mit einem dicken Paket Reisproviant von Grace machen wir uns schließlich auf den über 600 Kilometer langen Weg nach Salisbury zu meinem Onkel Andy. Unterwegs erhaschen wir eine Prise britischen Nummernschildhumor.
Am Abend treffen wir bei Andy und seiner Frau Pauline in Südengland ein. Zum ersten Mal sehe ich sein wunderhübsches Anwesen, genannt Bishop’s House („I guess a Mister Bishop used to live here“).
Freitag, 28. August 2009, elfter Tag. Und weil wir schon mal in der Gegend sind, machen wir noch einen Besuch bei Englands berühmtesten vorzeitlichen Monument überhaupt: Stonehenge.
Diese Klötzchensammlung vorzustellen, spare ich mir jetzt einmal.
Von dort aus ist es nur ein Katzensprung von nicht einmal 40 Kilometern nach Southampton, wo meine Freundin Kerstin mit ihrem Mann James wohnt. Kerstin hat es nach Journalistikstudium in Leipzig und Volontariat bei der Neuen Westfälischen in Bielefeld als Pressesprecherin zur Polizei in die südenglische Hafenstadt verschlagen – eine erfrischend ungewöhnliche Journalistenkarriere also.
Samstag, 29. August 2009, zwölfter Tag. Nach einem Bummel durch die Innenstadt springen wir ins Auto. Die Schlussetappe: 150 Meilen bis Dover, davon ein Stück über den Londoner Ring. Doch wir kommen gut durch und sind diesmal mit einem beruhigenden Zeitpuffer auf der Fähre.
Und das war sie, die dritte Schottlandtour des Moorbraunen. An Entfernungen waren es laut Google Maps von Aachen nach Durness gut 1700 Kilometer und insgesamt bei der Rückkehr in Aachen mindestens 4026 Kilometer. Inklusive aller Umwege tippe ich auf etwa 4200 Kilometer in zwölf Tagen. Der Benz hat’s klaglos mitgemacht, wobei die Verbräuche auf den einsamen schottischen Landstraßen teilweise bei 6,5 Litern pendelten – immerhin mit zwei Personen und vollem Gepäck an Bord. Die Reichweite pro Tankfüllung überschritt dabei die 1000er-Marke. Ein 240 D mag nicht das stärkste und schnellste Reisemobil sein, aber er hat definitiv seine Vorteile.
Einerseits ist da Brügge. Venedig des Nordens, Unesco-Weltkulturerbe und berühmt als Perle Flanderns, spätestens seit Martin McDonaghs Kinokracher „Brügge sehen… und sterben?“ (trotz des fürchterlich übersetzten Titels).
Andererseits gibt es Gent. Doppelt so groß, doch von den Touri-Horden gefühltermaßen nur halb so heimgesucht. Und schnelle 200 Kilometer nah an Aachen, 50 weniger als Brügge. „Brügge ist ein Museum, aber Gent lebt“, schwärmt die Betreiberin unseres Bed-and-Breakfasts. Da sie als Genterin möglicherweise nicht ganz unvoreingenommen ist, bedarf diese These einer Überprüfung. Auf ins Leben der drittgrößten Stadt Belgiens also – wenn’s denn existiert.
Erster Eindruck: Auch wenn die Unesco der ostflandrischen Provinzhauptstadt bislang die kalte Schulter zeigt, das Panorama der Altstadt kann mit dem Brügges durchaus konkurrieren. (Die Bilder lassen sich großklicken.)
Graslei heißt die Uferpromenade links im Bild. Wie die gut gemachte und sogar deutschsprachige Besucher-Webseite Visitgent.be behauptet, würden neun von zehn Gentern bestätigen, dass ihre Stadt dort am schönsten sei. Umfragen sind etwas Wunderbares: Schließt man sich der Mehrheit an, fühlt man sich sofort in warmer Masse wunderbar geborgen.
Das fällt allerdings auch nicht schwer. Wer beim Anblick der alten Giebelhäuser nicht in Schwärmen gerät, wird wahrscheinlich auf einer Bahre an ihnen vorbeigetragen und hat eine Decke über den Kopf gezogen, wie Douglas Adams einmal schrieb (allerdings nicht über Gent).
Die Zeit der stolzen Dreimaster ist hier m Zusammenfluss von Lieve und Leie zwar schon längere Zeit vorbei…
…geblieben sind dafür solch sympathische Hausboote mit üppigem Deckbewuchs. Das ist wirklich eher Leben als Museum. Der Genter hat’s anscheinend gerne gemütlich, wenn auch ein klein wenig Rebell in ihm steckt:
Überhaupt, Schilder. Mit der Skurrilität Büdingens in puncto Schilderwald können die Genter zwar nicht konkurrieren. Was sie von Falschparkern auf Behindertenparkplätzen halten, machen sie aber sehr deutlich:
„Neem je mijn parkeerplaats, neem dan ook mijn handicap!“ Nimmst du meinen Parkplatz, dann nimm auch meine Behinderung. Gut gegeben, Gent. Das ist ebenfalls Leben, nicht Museum.
Auch sonst herrscht im Straßenverkehr Ordnung. Französische Schräghecklimousinen zum Beispiel – das Auto am Haken ist eindeutig ein Citroën DS – scheinen nicht gerne gesehen zu sein. Man ist hier schließlich nicht in der Wallonie. Gut, dass wir mit einem klassischen Stufenheckmodell Stuttgarter Herkunft angereist sind, da hat man gleich eine Sorge weniger.
Es folgen ein paar der üblichen touristischen Highlights.
Das Stadttheater am Sint-Baafsplein (zu deutsch: Sankt-Bavo-Platz).
Das Turm-Trio: In der Bildmitte die St.-Nikolauskirche am Korenmarkt, rechts davon der Belfried-Glockenturm, dahinter der Turm der Sankt-Bavo-Kathedrale. In letzerer ist normalerweise der Genter Altar von Jan van Eyck aus dem Jahr 1432 zu sehen, auch bekannt als „Die Anbetung des Lamm Gottes“. Leider befindet sich dieser Meilenstein der Kunstgeschichte (dessen Geschichte übrigens ein Krimi für sich ist) derzeit in Restauration. Man darf aber Geld dafür ausgeben, ersatzweise in einer Seitenkapelle eine Nachbildung mit der Anmutung einer Baumarkts-Fototapete zu betrachten. Müssen muss man gottseidank nicht. Ansonsten ist das Innenleben der Kathedrale schlichtweg wunderschön. Schade, dass man es nicht fotografieren darf. Dafür einen Museumsminuspunkt.
Einen Big Ben haben sie auch, die Genter.
Und das Wichtigste: Sie können Waffeln. Außen hauchknusprig, innen zartweich. Selbst wenn Gent am Ende doch ein Museum ist – das Museumscafé ist vom Feinsten.
Glücklich, wer ein Haus mit Seeblick hat…
…und das Ambiente seiner Terrasse entsprechend zu gestalten weiß.
Ein Muss für jeden Besucher und längst kein Geheimtipp mehr: die Confiserie Temmerman an der Kraanlei im Patershol-Viertel, seit acht Generationen im Familienbesitz (zweites Haus von rechts). Unbedingt die lokale Spezialität „Neuzekes“ (Näschen) probieren, rote Bonbons in Kegelform mit Geleefüllung.
Auf dem Vrijdagmarkt…
…prangt das Denkmal des stehengelassenen Straßenbahnpassagiers.
1910 gönnte sich die Sozialistische Arbeitervereinigung diesen Prachtbau: „Ons Huis“ (Unser Haus) zeigt Merkmale des sogenannten eklektischen Stils und des Jugendstils.
Die Grafensteinburg (Gravensteen), eine der größten Wasserburgen Europas, stammt aus der Zeit um 1200 herum und sollte dereinst die Herrschaft der Grafen von Flandern sichern.
Die in die Außentürme eingelassenen, äh, sanitären Anlagen zeigen deutlich, was die Burgherren auf die Rechte der Stadtbewohner gaben.
Nacht in Gent. Der Tourist sucht sich im Patershol ein nicht völlig überteuertes Restaurant, was leider nicht ganz so leicht ist. Eine Mahlzeit unter 20 Euro? Ich bitte Sie. Das flämische Nationalgericht, der Waterzooi-Eintopf, ist fast unbezahlbar.
Irgendwann findet sich doch noch ein annehmbares Gasthaus. Und so geht der Tag zu Ende, die Füße schmerzen, doch im Glas glänzt beste belgische Braukunst. Zeit für die Entscheidung: museale Metropole oder lebendige Stadt?
Kein Zweifel, Gent lebt. Man könnte sogar sagen: Gent grinst. Eigentlich ganz gut, dass die Unesco noch nicht hier war. Wer weiß, was ein Bier sonst kosten würde.
Donnerstag, 2. Oktober 2008. Da sich in der näheren und weiteren Umgebung des Pont du Gard keine Herberge anbietet, ich außerdem so langsam den Drang in die Heimat verspüre (am Montagmorgen muss ich schließlich wieder in der Redaktion schwitzen), entscheide ich mich für Lyon. In der Riesenstadt gibt es gleich zwei Jugendherbergen, da wird schon irgendetwas frei sein. Allerdings sind es stolze 200 Kilometer bis nach da oben. Egal – adieu, Mittelmeer. Jetzt geht es nach Norden, das Rhônetal hoch.
Viel bekomme ich von der schönen Landschaft allerdings nicht mehr zu sehen. Als ich ein paar Stunden später nach ziemlich scharfem Ritt (die Freewind dankt es mit zügellosem Verbrauch) in der Stadt ankomme, ist es längst dunkel. Die erste Jugendherberge ist geschlossen, wie mir die Mitarbeiter der zweiten erklären. Die wiederum ist bei meiner Ankunft schon voll. Man verweist mich an ein Hotel in der Rue Vaubecourt – 45 Euro soll das Zimmer kosten. Was hilft’s.
Aber wo steckt die Bleibe? Das Navi bekommt in den engen Straßen keine Verbindung. Die Rue Vaubecourt kennt auch niemand (man spricht es „Wubkurt“ aus, erklärt mir schließlich ein englisch radebrechender Einheimischer). In mittlerweile strömendem Regen quartiere ich mich ein. Während die nassen Klamotten trocknen, gucke ich etwas fern, zum zweiten Mal in diesem Jahr: Deutsches Unterschicht-TV, in dem eine Art männliche Sozial-Nanny die von Mann und Kindern permanent gedemütigte Frau und Mutter einer Problemfamilie auf unfassbare Weise, nun ja, demütigt. Oh, wär ich doch am Mittelmeer geblieben, wo es sonnig, warm und nett war und nirgendwo Super-RTL lief.
(Das mehrminütige Gruselerlebnis ist übrigens Schuld daran, dass sich mein TV-Konsum 2008 auf diese Sendung, die Übertragung der Ordensverleihung wider den tierischen Ernst im Januar sowie eine Doku über die „Lustiania“-Versenkung im Dezember beschränken werden. Was definitiv zwei Sendungen zuviel waren.)
Freitag, 3. Oktober 2008. Am nächsten Morgen sieht die Welt schon viel freundlicher aus. Ich mache dem Portier zum Abschied noch eine kleine Szene, weil laut Zettel an meiner Zimmertür das Kämmerchen nur 35 Euro hätte kosten dürfen. Klugerweise warte ich mit der Szene bis nach dem Frühstück, dessen Bezahlung ich dankend ablehne. Dann stürze ich mich ins Stadtleben.
Ein prima Startpunkt für eine Lyon-Erkundung ist die Basilika Notre-Dame de Fourvière auf dem Fourvière-Hügel. Ein absolut bombastisches, neo-byzantinisches Monster von 1896. Wir Aachener gucken ja etwas säuerlich, wenn eine gerade mal über hundert Jahre alte Kirche genauso zum Weltkulturerbe gehören soll wie unser tausend Jahre älterer Dom. Klickt die Bilder ruhig an – wozu hab ich mir schließlich die Mühe gemacht, sie mit den Großversionen auf Flickr (Pro-Account!) zu verknüpfen?
„Ist uns egal, was es kostet“, haben die Stadtväter dem Architekten eingeimpft. „Nur teuer muss es aussehen. Richtig teuer.“
Wir überlassen das prestigeträchtige Glaubenssymbol sich selbst und gehen ein Stück weiter den Hügel hinunter…
…wo andere Architekten vor etwas längerer Zeit ein doppeltes Amphitheater in den Hang gebaut haben. Eine Art römisches Multiplexkino. Für mich deutlich spannendender. Hier haben die Lyoner (die damals noch Lugdunumer hießen) vor zweitausend Jahren gesessen und Stars zugejubelt, deren Namen längst vergessen sind. Nur die Sitzreihen von damals sind noch da. Und werden heute immerhin für Open-Air-Konzerte genutzt.
Direkt daran schließt sich das Gallo-römische Museum an, das in den Berg hinein gebuddelt worden ist und einige ziemlich beeindruckende Mosaike und Statuen hat. Wer auf Römergedöns steht, ist in Lyon genau richtig. Mit dem zweifachen Cineplexx ist es übrigens nicht getan – etwas weiter liegt noch ein drittes Amphitheater. Man hatte es ja. Damals genau so wie 1896.
Mitten durch die Stadt fließen die Rhône – hier im Bild – und wenige Meter daneben die Saône. Soviel zur berühmten französischen Inkreativität in Sachen geografischer Namensgebung (ich sage nur: Zentralmassiv. Max Goldt meinte, einst müsse wohl die DDR für die Benennung französischer Gebirge zuständig gewesen sein).
Doch die Stadt selber ist wirklich schön. Einen Tag lang bummele ich durch die Gassen der Altstadt (ein weiteres Weltkulturerbe, man hat’s ja) und klettere zum Arbeiterviertel Croix-Rousse hoch. Rechts im Blick Sacre-Coer und Eiffelturm Basilika und Funkturm.
Mein Versuch, das kulinarische Zentrum Frankreichs – Lyon nennt sich selbst die „Gaumenstadt“ – zu erobern, scheitert an den immensen Preisvorstellungen der hiesigen Gastronomie. Wir erinnern uns: Oktober 2008 war noch vor der Krise. Frustriert bestelle ich in einem Bistro das einzig zumindest ansatzweise frankophile Bier im Sortiment – ein belgisches Duvel. Für den frugalen 0,3-Liter-Trunk berappt man dem tumben Touri aus den sumpfigen Nordlanden 7,80 Euro, schade, dass es die Preußen 1871 nicht doch noch ein paar Kilometer weiter geschafft haben. Vielleicht hätten sie ja wie einige Jahre später in Tsingtao eine ordentliche Brauerei dagelassen. Der kurzfristige Aufenthalt der Türken vor Wien hat sich auf die europäische Frühstückskultur ja auch ganz segensreich ausgewirkt.
So wie dieser zur Abwechslung mal ganz schön fußläufige Tag mit einer kleinen Abzocke begonnen hat, geht er also auch zu Ende. Die Freewind erholt sich derweil vor der Jugendherberge, wo ich zumindest für die zweite Nacht noch ein Zimmer ergattert habe.
Gleichheit unter Rollern – klickt das Bild an und lest die Beschriftung: Egalité! Frankreich, Frankreich.
Morgen, Samstag, geht’s weiter nach Norden. Mal sehen, wie weit ich komme.
So kann es kommen. Da erzählen dir ein paar Leute, dass sie nach Schottland fahren werden oder nur mal irgendwann wollen. Einen Tag später wird in der Redaktion der Resturlaub verteilt, dir werden zwei Wochen im August zugeteilt… und plötzlich hast du eine Reise vor dir. Ein Ziel. So wie letztes Jahr San Sebastián.
Nur nördlicher diesmal. Schottland. Dreimal war ich da: 1992 mit Interrail, dann ein Jahr an der Uni von 1993 bis 94 und zuletzt nochmal die Rundreise 1995.
14 Jahre lang ist das her. Die ganze Zeit über war Schottland eine entfernte, wenn auch angenehme Erinnerung. Und plötzlich packt es mich wieder. Diese einsamen Highlands. Diese kurvigen Straßen. Single Track Roads. Lochs und Glens. Heide und Stein. Wasser und Himmel. Ruinen und Hinkelsteine. Die wunderbare Road to Applecross mit dem Blick auf die Isle of Skye. Und das unbekannte, leere Land nördlich von Ullapool, wo nichts mehr ist bis zum Cape Wrath.
Plötzlich sind 14 Jahre gerade gestern her. Wie habe ich das so lange ausgehalten?
Ach, Ornbau. Auch wenn ich im zweiten Jahr nicht mehr ganz so restlos erschlagen war von der schieren Wucht des Erlebten wie 2008, ein Erlebnis war es auch dieses Mal.
Merken muss ich mir allerdings für 2010, dass man besser um 16 Uhr ankommen, als von zu Hause abfahren sollte.
Sonst ist nämlich schon alles voll auf der Wiese…
…auf der der Moorbraune dann aber doch noch sein Plätzchen fand. Sogar das Mammutzelt vom Sebastian – im Hintergrund zu sehen – ließ sich noch zwischen einem Wohnwagen und einer runtergerockten Pagode (O-Ton Kaype) unterbringen. Wenn auch zwischen dem Eingang des Leinwand-Eigenheims und der Seitenwand des Caravans nur etwa acht Zentimeter Platz waren.
Nach der Ankunft tat ich das, was ich letztes Jahr schon tat: Zur nächsten Waschanlage fahren und anschließend einige etwas ausgeblichene Lackpartien des Coupés mit é zu schokoladigem Strahlen polieren. Irgendwie kommt Ornabu jedes Jahr so plötzlich, dass dazu vorher keine Zeit mehr ist.
Jetzt aber auf, zu einem Rundgang!
Ornbau 2009 stand unter dem Zeichen des fünfzigjährigen Geburtstags der Heckflosse. Das Exemplar am Ortseingang sah allerdings so aus, als wäre es direkt aus dem Jahr 1959 nach heute und dann wieder zurückgefahren.
Eine Leiche aus Portugal – in jeder Hinsicht.
Den Portugiesen sagt man ja einen gewissen Hang zur Melancholie nach. Wäre ich ein Autorestaurateur von der Westkante der iberischen Halbinsel, wäre Trübsinn noch die mildeste meiner Auto-Emotionen.
Nehmen und direktemang ab ins Museum damit. Meine Meinung. Gut, dass es nicht geregnet hat.
Nein, da reckten sich doch weitaus schönere Flossen in den fränkischen Himmel.
Diese hier hatte es mir mit ihrem betörenden Rotton angetan.
Wobei auch ein sattes Grün entzücken kann. Agave nennt sich das hier wohl. Auf dem besten Weg, in Sachen Exclusivität in moorbraune Sphären vorzustoßen (und um die Frage gleich zu beantworten: Nein, ein zweiter Benz in Farbcode 479 war auch dieses Jahr nicht am Start).
Ansonsten habe ich es mir geschenkt, wieder jedes halbwegs hübsche Fahrzeug abzulichten – zumal mir geschätzte 90 Prozent der Wagen eh noch vom letzten Jahr her bekannt vorkamen. Einige besonders ausgefallene Exemplare sollten allerdings nicht unabgelichtet bleiben.
So wie dieses formal nicht ungelungene (sind doppelte Verneinungen nicht einfach unnegativ?) 190er-Cabrio. Gut, die mysteriösen Lackblasen unter den Türsicken darf man sich lieber nicht genauer angucken…
Einen Blick wert waren dagegen die vielen Schilder und Embleme an den Exponaten, wie dieses seltene 220_Diesel-Schild, das angeblich in Großbritannien üblich war.
Stilvoller Aufkleber zur Abwrackprämie im Achtziger-Jahre-Look.
Hätte ich nur auf Mutti gehört, damals. Was sie gesagt hat? Keine Ahnung, hab ja nicht zugehört.
W126 mit übertriebenem Hang zur Bescheidenheit. Immerhin: 190E, nicht 190 Vergaser.
Auf der Wiese machen sich mittlerweile immer mehr Plastikbenze der Generationen W124 und W201 breit. Was die immer selbe Diskussion anfeuert, was denn nun der letzte wirklich echte Mercedes war. Die mehrheitsfähige Lösung verschiebt sich vermutlich jedes Jahr ein Stück weit nach hinten auf der Zeitachse. Die Frage, in welchem Modell man bequemer liegt, dürfte dagegen etwas einfacher zu klären sein.
Eins ist mal sicher: Als Leiche würde man lieber hier aufgebahrt liegen, als im portugiesischen Todesmobil oben. Außerdem können sich hier die Trauergäste während der Fahrt gut an den Griffstangen festhalten.
Was fällt uns an diesem Verblichenenveteran auf? Linke Seite…
…rechte Seite? Eigentlich nichts – haben nicht die meisten Autos vier Türen?
Eine weitere Variation zum Thema Tür und Tod.
Aber dass Mercedesfahrer Humor haben, müssen sie natürlich an allen Ecken und Enden beweisen. Man lese den aufgeklebten kleinen Zusatz (die Bilder lassen sich übrigens großklicken).
Überhaupt, der Flohmarkt. Was gab es nicht alles wieder zu Bestaunen und zu Ergattern.
Ich gebe zu: Die schönsten Klorollenhäkelmützchen der Welt haben mich eine Sekunde lang gereizt. Waren nur die falschen Autochen drauf.
Ich hatte dann freilich mein ganz persönliches Schnäppchenjägererlebnis. Und davon will ich nun berichten.
Denn es begab sich zu Ornbau Anno Domini MMVIII (das war letztes Jahr, für die, die es mit römischen Zahlen nicht so haben), dass ich stand am Stand eines Teppichhändlers Teilehökers und ein Teil einen Teppich in der Hand hielt. Es war eine paßgenaue Fahrerfußraummatte für den W123, cremebeige, Zweitserienschlinge, mit originaler Passformunterschäumung. Hundert Gülden-Silberlinge verlangte der Händler dafür. Mit mir hadernd, wog ich das originalverpackte Stück synthetischen Bodenbelags in meinen Händen: Hatte ich nicht gerade erst ein vielfaches der geforderten Summe für Gummidichtungen und andere Kleinodien ausgegeben? Nein!, sprach ich schließlich zu mir selbst. Einmal muss es gut sein mit dem Geldverprassen! Schweren Herzens legte ich das verhüllte Utensil zurück an seinen Platz und warf dem Händler ein hastiges Lebewohl hin.
Doch kaum war ein Stündelein vergangen, da reute mich mein vorschnelles Tun. Du Tor!, schalt ich mich: Würde ich je im Leben wieder an einen originalverpackten Fahrerfußraumteppich für den W123, cremebeige, Zweitserienschlinge kommen? Flugs raffte ich meine Gewänder und eilte zurück zum Tisch des Händlers, doch siehe! Längst hatte er seine Zelte abgebrochen und war von hinnen gezogen. Betrübt ließ ich den Kopf hängen: Solch eine Gelegenheit, dessen war ich gewiss, würde nie wieder kommen.
Doch was tat das Schicksal? Es verschaffte mir ein Deschawüh. Denn als ich am Samstag, ein Jahr darauf, auf dem Flohmarkt am Ortseingang um eine Straßenecke bog, stand ein Teilemensch an derselben Stelle, an der im vergangenen Jahr der Teppichmann stund. Und auf dem Boden lag ein originalverpackter Fahrerfußraumteppich für den W123, immer noch cremebeige, immer noch in Zweitsellerieschlinge.
Ich hab sogar noch zehn Euro Rabatt rausgeschunden. Jetzt aber schnell den dunkelbraunen Fußabstreifer draufgelegt, damit man nichts mehr von der beige Beauty sieht!
Ornbau ist schon ein Phänomen. Die lockere Stimmung, das bunte Programm, die vielen lustigen Einfälle und Ideen – an der auf die Seite gelegten Flosse im Unterbodenworkshop war sogar der Stern auf der Kühlermaske abgekippt – sind einfach wunderbar. Auch wenn man nicht mehr ganz so erschlagen ist wie beim ersten Mal.
Zum Schluss noch ein Blick auf einen anderen Oldie, der einsam am Rande der „freien Wiese“ stand.
…und erst der Aufkleber vom Schweden-TÜV im Fenster!
Auch in Skandinavien haben sie eigenwillige Autos gebaut. Damals, als Volvo noch nicht zu Ford und Saab noch nicht zu General Motors gehörte.
Was für eigenwillige Mercedesse man dagegen in England zurechtgeschweißt hat, davon erzähle ich im nächsten Beitrag. Kann allerdings ein, zwei Tage dauern, denn der Verfasser dieser Zeilen hat derzeit kein funktionierendes DSL daheim.
Donnerstag, 2. Oktober 2008. Am nächsten Morgen scheint über Carcassonne – kein Kalauer – die Sonne. Es war gestern Nacht ein etwas komisches Gefühl, mit dem Motorrad direkt durchs Burgtor und durch die engen Gässchen der Mittelalterstadt zu knattern. Aber das Navi hatte mal wieder Recht: Die Jugendherberge liegt genau in der Mitte der mehr als zwei Jahrtausende alten Siedlung. Und Hotelgäste dürfen tatsächlich motorisiert bis vor die Herberge fahren. Marit darf sogar im Innenhof parken.
Die befestigte Stadt – die historische Cité auf dem Berg bildet nur die Oberstadt – ist nicht allzu groß und gut an einem Tag zu Fuß zu erkunden.
Die von Historiker und Architekten Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert restaurierten Burganlagen sind weltweit einzigartig. Die Türme der äußeren Stadtmauer sind oft als sogenannte Schalentürme gestaltet, also nach hinten hin offen. So boten sie einem eingedrungenen Feind keine Deckung zur inneren Stadtmauer hin.
Ob die Restauration der historischen Bausubstanz eher geschadet oder eher genutzt hat, ist unter Fachleuten umstritten. Fakt ist jedenfalls, dass der Betrachter einen hervorragenden Eindruck davon bekommt, wie die Stadt zu ihrer größten Zeit im Hochmittelalter einmal ausgesehen hat. Wer Ruinen will, soll halt nach Schottland fahren und sich Urquhart Castle anschauen.
Die ältesten Teile von Carcassonnes Außenmauern stammen noch aus gallo-römischer Zeit und sind rund zweitausend Jahre alt.
Ab dem 12. Jahrhundert war die Stadt eine der Verbreitungsstätten der Katharerbewegung, die sich von der katholischen Kirche losgesagt hatte. Dies und diverse Eroberungen und Erbstreitigkeiten regionaler Adelsgeschlechter führten dazu, dass die Stadt immer weiter festungsartig ausgebaut wurde.
Heute ist Carcassonne Unesco-Weltkulturerbe – in Deutschland ist der Name auch durch das gleichnamige Brettspiel bekannt, das 2001 zum Spiel des Jahres gewählt wurde.
Im Inneren des Stadtkerns warten Mengen kleiner Läden auf Touristen…
…und in den kleinen Läden warten Mengen kleiner leckerer Versuchungen. Ach ja. Manchmal hätte ich ja doch einen größeren Kofferraum. Oder zumindest einen, den sich etwaige Mitbringsel nicht mit den Ausdünstungen eines Zweiliterkanisters Benzin teilen müssen. Ich entscheide mich für eine kleine gelbe Tischdecke mit provençalischem Muster. Die lässt sich waschen.
Nach ein paar Stunden habe ich das Meiste gesehen. In den Motorradklamotten wird es mal wieder unerträglich warm. Also weiter! Am Atlantik war ich schon. Jetzt will ich noch ans Mittelmeer. See Europe in one week – bin ich wirklich erst vor acht Tagen aus Aachen aufgebrochen?
Für die Fahrt nach Vitoria nehme ich natürlich nicht die gebührenpflichtige Autobahn A 804, sondern die kleine Landstraße, die sich neben, über und unter ihr langschlängelt. Hier kann man wenigstens mal ein Foto machen. Wieder bin ich überrascht, wie grün und waldig das Baskenland ist.
Am frühen Abend erreiche ich die baskische Hautstadt, die offiziell Vitoria-Gasteiz (Gasteiz ist der baskische Name) heißt. Mit der 227.000-Einwohner-Stadt verbinde ich so gut wie nichts, so dass ich etwas überrascht bin, als ich durch Straßenschluchten mit siebenstöckigen, ziemlich mondänen Wohn- und Geschäftshäusern fahre. Die Jugendherberge liegt in einer Straße namens Escultor Isaac Diez, die mein Navi einfach nicht finden will. Immer und immer wieder kurve ich durch das in Frage kommende Viertel, finde das Straßenschild nicht, rufe in der Herberge an – doch die junge Dame an der Rezeption spricht kaum Englisch. Schließlich löst sich das Rätsel. Die Escultor Isaac Diez ist ein winziger Sackgassenstummel, kaum mehr als ein Wendehammer, an dessen Ende hinter einer Mauer das etwas zurückhaltend beschilderte Gebäude liegt.
Genau, das ist das Jugendherbergs-Schild.
Aber das Zweibettzimmer (ich hab’s alleine) ist konkurrenzlos günstig und hat sogar ein komplettes Bad. Und das für 18 Euro oder so.
Abends tigere ich noch ein wenig durch die Stadt. Hier der Plaza de la Virgen Blanca mit dem Denkmal für die Schlacht von Vitoria, in der 1813 Wellington die Truppen Napoleons besiegte. Im Hintergrund die Iglesia de San Miguel Arcángel, zu deutsch Kirche des Hl. Erzengels Michael.
Eine Kneipe und ein Internetcafé gegenüber machen mich zu einem glücklichen Menschen. Erst gönne ich mir ein fürstliches Geburtstagsmahl mit leckeren Pintxos und frischem kühlen Bier…
…dann setze ich mich an den Rechner und blogge die nächsten Kapitel meiner Reise.
Als man mich gegen 22 Uhr vor die Tür kehrt, ist es schon dunkel. Jetzt überrascht mich die Stadt mit diversen Lichteffekten wie den kleinen Springbrunnen auf dem Plaza de la Virgen Blanca, die ihren Farben wechseln…
…und den futuristischen Straßenlampen dahinter.
Auf dem Rathausplatz (?) überrascht mich dagegen wieder das „Eta-nein-danke“-Transparent. Ob es hier Demonstrationen gegeben hat? Vielleicht in Zusammenhang mit dem Bombenanschlag vor ein paar Tagen?
Dienstag, 30. September. Mein Geburtstag. Für heute habe ich mir etwas Besonderes vorgenommen: einen Besuch im Guggenheim-Museum.
Das 1997 vom amerikanischen Stararchitekten Frank Gehry gebaute Museum ist das Highlight der Stadt.
Wie eine Mischung aus Ozeandampfer und Zeppelin liegt es am Ufer des Nevión.
Die große Straßenbrücke über den Fluss in das Gebäude zu integrieren, war für Gehry eine echte Herausforderung.
Die Rückseite. Neben Titan bestehen die Wände aus Kalksandstein.
Dieser blühende Blumenwelpe auf dem Platz vor dem Eingang heißt Puppy (ja, das ist das englische Wort für „Welpe“) und ist in seiner bunten Harmlosigkeit ein typisches Werk des amerikanischen Kitschkünstlers Jeff Koons. Eigentlich war er nur für die Eröffnungsausstellung gedacht, doch weil ihn die Bewohner der Stadt sofort ins Herz geschlossen hatten, steht er heute noch da. Was viel über die Anfälligkeit des modernen Menschen für Kitschkunst aussagt. Aber ist er nicht soooo süß, wie er so sitzt und guckt?
Schon etwas schwerer zu verstehen sind die Skulpturen von Juan Muñoz auf der Eingangstreppe heißen „Thirteen Laughing at Each Other“.
Im Museum selber gibt’s dann leider eine kleine Enttäuschung, weil man im Gebäude nicht fotografieren darf. Meine Canon wird eigens in eine Plastiktüte eingesiegelt. Was das Innenleben und die Dauerausstellung angeht, kann ich darum nur auf die Wikipedia-Bildergalerie und Seiten wie Fernweh.de verweisen, wo mehr zu lesen und zu sehen steht. Etwa über die begehbaren rostigen Stahlellipsen von Richard Serra. Mit Muñoz dagegen, dessen Lebenswerk gerade im ersten Stock gewürdigt wird, kann ich dagegen nicht soviel anfangen. Ein leerer Raum mit schmiedeeisernen Balkonen an den Wänden – äh…?
Geht man durch das zentrale Atrium des Museums, das ähnlich wie ein Herz gestaltet ist, gelangt man auf die hintere Besucherplattform. Hier ist Fotografieren wieder erlaubt. Gut, dass die Plastiktüte Grifföffnungen hat, durch die eine Powershot A 2000 IS gerade durchpasst. Die spinnen, die Spanier.
Moderne Kunst: die tägliche Nebelinstallation von Fujiko Nakaya.
„Maman“ von Louise Bourgois, eine fast zehn Meter hohe Bronzefigur in Spinnenform. Erstaunlicherweise wollte die Künstlerin ihrer Mutter mit diesem Werk ein liebevolles Denkmal setzen: Die Spinne ist für sie Symbol für das weise, hegende und webende Wesen der Mutter. Man darf halt nicht immer gleich an Tarantula denken.
Mutter Natur hat’s lieber eine Nummer kleiner. Freifliegende Installation aus Chitin an der Außenwand. Deren Platten aus gewalztem Titan übrigens nur hauchdünn sind.
Es ist quietschbunt, es ist irgendwie appetitlich… es ist natürlich ebenfalls von Jeff Koons.
Für das Museum sollte man sich ein paar Stunden Zeit nehmen – und einen Audioguide. Der ist nämlich sehr hilfreich beim Verständnis der Werke. Moderne Kunst, sage ich nur.
Soviel Kreativität weckt den Wunsch des Betrachters, selbst zu schaffen, zu bauen und zum Leben zu erwecken. Hier seht Ihr die Installation „Freier Wind“ von Marc Heckert, September 2008, Material: Suzuki vor Titan.
Es ist Nachmittag und damit Zeit, Bilbao den Rücken zu kehren. Aber wohin? Weiter nach Westen, die Küste runter in Richtung Galizien? Vielleicht sogar nach Santiago de Compostela? Aber irgendwie habe ich keine Lust mehr, mich noch weiter von zu Hause zu entfernen. Schließlich muss ich die ganze Strecke auch wieder zurück. Also entscheide ich mich, wieder zurück nach Osten zu fahren, dafür aber weiter ins Landesinnere. In Vitoria, der Hauptstadt der autonomen Region Baskenland, gibt es eine Jugendherberge. Und sie hat ein Zimmer für mich.
Montag, 29. September. Der nächste Tag beginnt nicht gut. Ich wache gegen halb sieben auf, viel zu früh fürs Frühstück, das zwischen acht und neun Uhr serviert wird. Weil der Lärm der Schnellstraße vor dem Fenster mich nicht mehr einschlafen lässt, stecke ich mir die Stöpsel in die Ohren. Mit dem Resultat, dass ich erst um drei Minuten nach 9 Uhr wieder wach werde. Da sind die Rollläden der Frühstückstheke im Speisesaal tatsächlich schon wieder heruntergelassen. Gnadenlos. Mist!
Doch die Lage bessert sich. Die nette und fließend Deutsch sprechende Dame am Empfang hat nicht nur einen Stadtplan für mich, sondern auch noch ein Breakfast-Bag, eine Frühstückstüte zum Mitnehmen. Als ich damit gemütlich vor der Jugendherberge sitze und das süße Buttersandwich futtere, komme ich mit einer deutschen Touristin ins Gespräch, die dort ihren Rucksack packt. Sie ist auf dem Jakobsweg – und das mit bestimmt 60 Jahren, Respekt. Sie gibt mir den Tipp, den Nevión hoch bis Portugalete zu fahren. Dort stünde eine einzigartige historische Hängebrücke aus Stahl, ein Unesco-Weltkulturerbe. Manchmal ist es auch ganz gut, nicht nur nach dem Reiseführer zu gehen. Solche Gespräche sind übrigens der Grund, weshalb ich Jugendherbergen mag: Man trifft immer interessante Leute und erfährt eine Menge.
Nach dem Frühstück fahre ich erst einmal durch die Stadt. Bilbao hat zwar den Ruf weg, eine gesichtslose und eher hässliche Hafenstadt zu sein, es gibt aber doch viele reizvolle und interessante Ecken. Das Highlight ist natürlich das Guggenheim-Museum, aber das spare ich mir absichtlich für morgen auf – meinen Geburtstag.
Am Ufer des Nevión, der durch die Stadt fließt.
Das Theater Arriaga am Rand der Innenstadt. Hier gönne ich mir in einem Straßencafé noch einen Kaffee und ein Sandwich und schmökere in meinem Vis-a-vis-Reiseführer. Über die Hängebrücke von Portugalete steht allerdings wirklich kaum etwas drin.
Ein paar Schritte weiter leuchtet die buntbemalte Prachtfassade des alten Hauptbahnhofs.
Die Hängebrücke möchte ich unbedingt sehen. Auf dem Weg das Nordufer des Nevión hinauf erinnern Fabrikruinen daran, dass Bilbao in den vergangenen Jahren einen Wandel weg von einer Schwerindustriestadt in der Strukturkrise zu einer modernen Metropole genommen hat.
Und da ist sie: Die Puente de Vizcaya, Verzeihung: die Bizkaiko Zubia. Das 1893 fertiggestellte Bauwerk ist die älteste Schwebefähre der Welt und noch voll in Betrieb.
Für 30 Cent werden wir übergesetzt – zum ersten Mal geht Marit buchstäblich in die Luft.
Dann entschwebe ich alleine gen Himmel. Zu Fuß selber über die 160 Meter lange Hochbrücke zu laufen ist erstaunlicherweise teurer, als bequem mit der Gondel auf Straßenlevel über den Fluß zu schweben. Fünf Euro kostet das Vergnügen, sich von einem Fahrstuhlführer auf einen der 45 Meter hohen Stahltürme fahren zu lassen.
Aber es ist das Geld wert. Whow, was für ein Bauwerk…
…man darf nur nicht nach unten gucken, wo gerade die Gondel vorbeirauscht.
Kein Problem eigentlich. Den Fluss hochzugucken ist ja auch viel schöner…
…oder hinunter, in Richtung Stadt. Währenddessen schwärmt über die Lautsprecher ein euphorischer Kommentator auf Englisch in einer Art Hörspiel von der Geschichte dieses „großartigen Bauwerks“. Untermalt von Pferdegewieher und Kanonendonner.
Und so sieht die Brücke in Aktion aus.
Zurück in die Stadt. Während es langsam dunkel wird, bummele ich durch die Gassen der Casco Viejo, der Altstadt.
Hübsch: Einige der Straßen sind nach alten Sportarten benannt, wie hier nach dem Pelota-Ballspiel.
Typisch für die Häuser hier sind die vorgesetzten verglasten Balkone an jeder Fassade.
Als es Nacht geworden ist, kaufe ich mir noch ein improvisiertes Abendbrot (noch einmal bei Lidl, wie schon auf dem Hinweg in Frankreich – da weiß man wenigstens, was man hat) und fahre zurück in die Herberge, wo ich in dieser Nacht leider das Zimmer mit einem Mitbewohner teilen muss. Da erwartet mich allerdings eine unangenehme Überraschung. Eine Riesenladung französischer Teenager tobt durch die Flure. Angeblich sind es mehr als hundert. An Schlaf ist nicht zu denken, die Kids johlen, knallen Türen, verschieben Möbelstücke. Bis halb drei liege ich wach, trotz Ohrenstöpseln. Verdammte Blagen.