Auf neuen Wegen (Im Venn II)

83-Bueschel

Der Wind weht scharf, aber erträglich, als wir über den von Touristenfüßen plattgetretenen, überfrorenen und spiegelglatten Schnee mehr rutschen als stapfen. Hinter Baraque Michel führt der Wanderweg erst durch ein kleines Waldstück – und dann steht man schon im Venn.

95-Kraniche

Fast zwei Jahre ist es her, dass ich – allerdings ein paar Kilometer weiter, auf deutscher Seite – auf einem Spaziergang an dieser so ungewöhnlichen Landschaft trotz guter Kamera und ebensolchen Objektiven verzweifelte. Viel Himmel, viel Horizont, versprenkelte Bäume, in der Mitte der Weg. Was sollte man da fotografieren?

16-Zweige

Heute weht ein anderer Wind. Wörtlich genommen. Ein Dutzend verschiedenster Fotokurse und noch deutlich mehr Objektive später fällt die Motivwahl nun etwas leichter. Da hätte es den großen Schwarm Kraniche gar nicht gebraucht, der über uns zurück nach Norden zog.

45-Plaetschergras

Eine eigenartige Landschaft ist das Venn. Riesenhaft leer und offen wirkt es und versperrt sich gleichzeitig mit seinem sumpfigen Boden der Eroberung durch den Besucher. Nur auf geradezu homöopathisch schmalen Pfaden lässt es sich erkunden.

07-Schildweiss

Gerade einmal meterbreite Holzstege führen über die morastige Ebene. Die Warnung „Als het weer regenachtig is, zijn de houtstegen glibberig“ ist berechtigt. Wenn das Wetter dagegen eisig ist, sind die Planken nicht nur glibberig, sondern geradezu mörderisch glatt.

20-Gelaenderblick

27-Winterbaum

Schließlich führt der Weg wieder an einem Bach entlang in ein Waldstück, wo es vor lauter Bächlein regelrecht murmelt.

36-Schildrot

54-Plaetscherbach

Das Fortkommen wird immer schwieriger. Der spiegelglatte Steg bietet kaum Halt und in den Planken klaffen große Lücken.

61-Stegluecke

Das Geländer, wenn es denn eins gibt, ist höchlichst willkommen. Auch, wenn das rauhe Holz an den Handschuhen zupft.

44-Eisgelaenderl

80-Plaetscher

Motive zum Fotografieren gibt es in diesem stillen Winterwald allerdings reichlich. Ich habe zwei Objektive für die Sony A7 II in der Tasche: mein sehr geschätztes Minolta MD 3.5 35-70 mm Zoom und die jüngste Neuerwerbung, ein MD 4 75-150 mm Zoom von 1981. Beide Brennweiten ergänzen sich sehr angenehm. Und beide überzeugen mit knackiger Schärfe und angenehmem Bokeh.

67-Truemmersteg

Zugegeben, das Wechseln der Objektive auf den ebenso schmalen wie glatten Holzstegen ist kein Vergnügen. Auch reicht die Zeit heute nicht, mit Stativ und langem Hin- und Herprobieren das perfekte Bild zu komponieren. Dafür ist es auch einfach zu zugig – also muss es zügig gehen.

56-Plaetscherbaum

87-Hochsitz

Aber als uns der Weg schließlich wieder zurückführt, bin ich glücklich. Über den schönen Spaziergang – und das Gefühl, im Venn diesmal fotografisch nicht am Ende gewesen zu sein, sondern am Anfang.

86-Krummbaum

Leipzig. 50 mm.

Unaufschiebbares

Es gibt Dinge, die kann man nicht aufschieben. Geburtstage von Menschen, die man liebt, zum Beispiel. Dafür setzt man sich auch dann am Wochenende ins Auto, wenn in fünf Bundesländern die Sommerferien beginnen und sich die Stauprognose des ADAC liest, als träfen sich die Reiter der Apokalypse mit Dischingis Khans Goldener Horde zum munteren Schädelkegeln am Kamener Kreuz:

„Gewaltige Staus erwartet Autofahrer auf dem Weg in den Sommerurlaub an diesem Wochenende. An diesem Wochenende starten die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sowie der Süden der Niederlande in die Ferien. Aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und der Mitte der Niederlande rollt die zweite Reisewelle. Es gibt kaum mehr Strecken ohne Staus. Wer kann, sollte für den Start in den Urlaub auf einen Tag unter der Woche ausweichen.“

Aber, wie gesagt, es gibt Dinge, die kann man nicht verschieben, denen kann man nicht ausweichen. Ein Trost bleibt dem Schreiber dieser Zeilen, während er am Sonntagnachmittag in seiner frisch polierten C-Klasse vom elterlichen Oldenburg aus in Richtung Süden brummt: Er hat es nicht eilig. Keine Deadline dräut, kein Minutenzeiger sitzt ihm im Nacken. Die linke Spur darf heute gerne denen gehören, die nicht so gut dran sind wie er. Manchmal ist es auch die Mittlere, wenn sie ihn in ihrer Eile rechts überholen, um sich ein, zwei Autos weiter vorne im Pulk einzusortieren.

Denn ein Pulk ist es, der sich da über die A1 ab dem Autobahnkreuz Alhorn in Richtung Osnabrück/Münster schiebt. Selten geht es schneller als 120 Stundenkilometer voran, meist deutlich drunter, immer wieder zieharmonikat sich die Blechschlange bis auf 60 km/h zusammen. Kurz hinter Vechta – der beim Volltanken in Oldenburg auf Null gestellte Tageskilometerzähler zeigt gerade erst 50 zurückgelegte Kilometer an – ist dann zum ersten Mal Schluss. Stau.

Auf drei Spuren stehen wir da, im leichten Nieselregen unter trübem Himmel, und warten, kriechen ein paar Meter weiter, stoppen, warten, fahren wieder an, kriechen ein, zwei Wagenlängen voran, stoppen wieder, warten. Bis es irgendwann, erst zögerlich, dann merkbar und schließlich endgültig wieder weitergeht. Eine Stunde ist da schon vergangen, eine Stunde für 50 Kilometer Strecke. Von knapp 400 nach Aachen oder gut 300 nach Köln – je nachdem, wie weit ich heute noch komme.

Fürs erste sind das gerade mal weitere 50 Kilometer. Bei Osnabrück staut es sich zum zweiten Mal. Und wieder ist eine Stunde vergangen, als der Kilometerzähler endlich die 100 voll macht. Und so in etwa bleibt es auch.

Bis kurz hinterm Kamener Kreuz.

Es sind keine Mongolischen Reiterhorden, die da die Autobahn dichtmachen, es ist nur eine zufällige Zusammenkunft zahlreicher Sommerfrischler aus verschiedenen Ecken Deutschlands. Trotzdem geht in Sekundenschnelle gar nichts mehr, und die Geschwindigkeit und Gründlichkeit, mit denen der Verkehr zum Erliegen kommt, verraten dem auf unzähligen Autobahnkilometern durchgewalkten Hintern des Erfahrenfahrers, dass es diesmal etwas Ernsteres ist. Keine Spurverengung wegen einer Baustelle, kein Wohnmobil mit Motorradanhänger, dem an einer Steigung beim Überholen die PS ausgegangen sind. Das hier wird länger dauern. Minuten vergehen. Nach und nach werden Motoren abgestellt. Es wird still. Türen klappern, Fahrer steigen aus. Zigaretten werden angezündet. Menschen versuchen, nach vorne zu spähen, schirmen die Augen mit der Hand ab. Ist da etwas zu sehen, hinter dem blauen Hinweisschild auf das Autobahnkreuz Dortmund/Unna?

Stau659

Das Martinshorn ist zuerst ganz leise, kaum zu hören. Dann: bläuliches Aufblitzen im Rückspiegel. Einige Autofahrer beginnen, ihre Mobile auf den wenigen zur Verfügung stehenden Metern Asphalt aus dem Weg zu rangieren. Schon rauscht der erste Rettungswagen vorbei. Der Zweite. Jetzt ein knallrotes Löschfahrzeug der Feuerwehr. Noch eins. Schließlich Polizei.

Kaum jemanden hält es jetzt im Wagen. Auch mich nicht. Ist das Gafferei? Ist es Anteilnahme? Wir Menschen sind so gepolt, dass wir wissen wollen, was vor sich geht. Was passiert da vorne? In der Kurve hinterm Hinweisschild verharren die vielen winzigen Blaulichter, flackern statisch vor sich hin. Steigt da Rauch auf?

Immer mehr Minuten kriechen ins Land. Hätte man die Fahrt nicht doch verschieben sollen? Lieber später am Abend fahren? Oder ganz früh am Morgen? Eine andere Route nehmen?

Über der stehenden Kolonne kreist ein Greifvogel. Auch wenn er kaum Ähnlichkeit mit einem Geier hat, er lenkt die Gedanken unwillkürlich auf das, was sich da vorne ereignet hat. Sind Menschen verletzt worden? Einer, mehrere? Schreit in diesen Minuten jemand vor unerträglichen Schmerzen, eingeklemmt in einem zerquetschten Haufen Blech? Kämpfen Mediziner um einen Sterbenden? Vermutlich ist es eine Gnade, außer den blauen Lichtpunkten da hinten in der Kurve nichts erkennen zu können.

Plötzlich ein Knattern. Ein Rettungshubschrauber steigt auf. Der Pilot senkt die Nase der Maschine, die schnell Fahrt aufnimmt, tief über unsere Köpfe donnert. Ob im Innenraum jemand auf der Bahre liegt?

Ein anderes Geräusch – lautes Hupen von hinten. Ein großer, leuchtend gelber Abschlepp-Lkw schlängelt sich durch die Rettungsgasse, im Sekundenrythmus lässt der Fahrer die Fanfaren dröhnen. Wenige Meter dahinter ein zweiter.

Es dauert noch lange – eine Viertelstunde? Eine Halbe? -, ehe die Autotüren wieder klappern. Ehe die Wartenden in ihre Wagen steigen. Dann werden Motoren angelassen. Bewegung kommt in die Schlange. Anfahren. Langsam. Im Kriechtempo voran. Vorbei an Polizisten in gelben Neonwesten, die den Verkehr mit Kellen ganz nach rechts auf den Standstreifen dirigieren, vorbei an einem Abschleppwagen mit einem zerbeulten gelben Kombi auf der Ladefläche, vorbei an einem Kastenwagen der Polizei mit flackerndem Blaulicht, in dem Menschen sitzen, vorbei an einem zerschrammten BMW links an der Leitplanke.

Dann ist die Bahn vor mir frei. Und zwar völlig frei, weil der Verkehr sich nur tröpfchenweise aus der Engstelle befreien kann. Als wollte die Autobahn sich für das Warten entschuldigen, lädt sie jetzt zum Gasgeben ein: Alle drei Spuren für dich! Doch mir ist nicht danach, ein paar der vielen verlorenen Minuten wieder hereinzuholen.

Es gibt Dinge, die man nicht verschiebt, weil man sie unbedingt tun möchte. Und dann gibt es Dinge, die kann man nicht verschieben, weil sie einem passieren. Weil sie sie einem im wahrsten Sinne des Wortes wider-fahren, wie zwei Tonnen Auto auf Kollisionskurs auf einer Autobahn. Dinge, die einen aus der Spur werfen, aus aller Planung katapultieren, vielleicht sogar aus dem Leben.

Mir ist heute auf der A1 bei Unna etwas Lebenszeit abhanden gekommen. Lebenszeit, die ich lieber anders verbracht hätte. Doch es gab jemanden, der hätte sicherlich gerne mit mir die Plätze im Stau getauscht. Jemand, der näher am Geschehen hinter dem blauen Autobahnschild war als ich. Ganz nah. Zu nah.

Sechs Stunden nach dem Losfahren stelle ich in Köln den Motor ab. Sechs Stunden für gut 300 Kilometer. Und trotzdem habe ich das Gefühl, Glück gehabt zu haben.

In der Janusstadt

Lüttich, so erkläre ich Freunden immer, die zum ersten Mal im Maasland sind, Lüttich müsst ihr euch vorstellen wie eine beschauliche mittelgroße französische Stadt aus dem 18. Jahrhundert, auf die in den 60er Jahren eine bulgarische Trabantensiedlung aus Betonhochhäusern gefallen ist.

1413-Yachthafen

Und wenn man dann gemeinsam am Boulevard Frère-Orban die Maas in Richtung Stadtmitte hochschlendert, wird mit jedem Schritt klarer, wie das gemeint ist.

1414-Maasufer

Irgendwann in den 60ern muss ein zukunftsgläubiger Stadtrat beschlossen haben, dass Traufhöhenbegrenzungen etwas für Spießer sind, am Ende gar etwas für Deutsche. Ergo brach in der einstigen Wiege der europäischen Stahlindustrie eine Abriss- und Neubauwut aus, die beim heutigen Betrachter die Erkenntnis weckt, dass die alliierten Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs nicht das Schlimmste waren, das einer mitteleuropäischen Stadt im 20. Jahrhundert widerfahren konnte. Verloren quetschen sich seitdem die wenigen übriggebliebenen einst so imposanten Fassaden der alten, drei- und vierstöckigen Bürgerhäuser zwischen die gewaltigen, gerne mal elfgeschossigen Klötze, die es überall ins Weichgebiet der Stadt gehagelt hat.

1415-Uferskulptur

Abgerundet wurde das architektonische Grauen in den folgenden Jahrzehnten vom rapiden Verfall der Schwerindustrie, grassierender Arbeitslosigkeit, fehlenden Mitteln für Restaurierung und Instandhaltung – et voilá, fertig war eine Melange der Tristesse. Die Stadt wurde zum Januskopf – und ihre beiden Gesichter starren in entgegengesetzte Richtungen. Was für ein Kontrast zum nur wenige Kilometer weiter flußabwärts gelegenen, atemberaubend schönen – und dabei historisch vollkommen stimmigen – Maastricht. Was für ein Kontrast auch zum ebenfalls schwer verwundeten, aber danach mit viel gutem Willen wieder zusammengeflickten Aachen. Lüttich wollte ganz nach oben und blieb auf halbem Weg stecken. Die Stadt hatte einst eine Seele – und verlor sie, schrieb der Blogger Don Alphonso, leider finde ich den Link nicht mehr.

1418-Skulptur

Ist das immer noch so? Ja, die Skyline der wallonischen Regionalhauptstadt ist, sagen wir mal zurückhaltend, einzigartig (jedenfalls wünscht man das den anderen Städten dieses Planeten). Aber es ist nicht die einzige Wahrheit. Nicht nur der 2009 fertigestellte Bahnhof Liège-Guillemins von Santiago Calatrava fügt den zwei Seiten der Medaille eine neue Facette hinzu.

1386-Bahnhof

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Der Humor der Bewohner tut das Seinige…

1547_Pizza-Belge

…selbst wenn der China-Imbiss mal zu hat.

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Und dann sind da natürlich noch die Juwelen. Für die man manchmal ein paar Schritte abseits des Weges gehen muss. Etwa in die „Impasses“ nördlich der Prachtstraße Hors-Château in der Altstadt. Hier fristeten einst die Dienstboten und Angestellten der Bewohner der Reichen und Schönen der Stadt ihr bescheidenes Dasein. Wer sich durch die teils winzigen Durchgänge an der Hauptstraße…

1426-Impasse

…in diese Labyrinthe aus Hinterhöfen und Sackgässchen quetscht – nirgendwo gibt es eine Verbindung zwischen diesen Stichwegen, stets muss man wieder zurück zur Straße -, wird belohnt durch den Anblick liebevoll geschmückter Gärten und schrullig auf- und aneinandergestapelter Häuser.

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1451-Impassenblumen

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Am Nordende der Rue Hors-Château liegt die Stiftskirche Saint-Barthélemy aus dem 11. und 12. Jahrhundert.

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Das Bauwerk aus Grauwacke war Ende der 90er Jahre stark verwittert und wurde nach der Jahrtausendwende mit gewaltigem Aufwand innen und außen saniert.

1473-Kirchenschiff

Dabei wurde nicht nur der gesamte Boden erneuert, um eine moderne Heizungsanlage einzubauen – wobei zahlreiche Gräber entdeckt wurden -, sondern auch alle Außenwände neu verputzt und das Kirchenschiff neu vermörtelt und gestrichen.

1485-Altar

Im Inneren steht man vor dem Taufbecken des Bronzegießers Reiner von Huy aus der Zeit um 1110, eines der „Sieben Wunder Belgiens“.

1468-Taufbecken

Die einzelnen Taufszenen werden durch Abbildungen von Bäumen voneinander getrennt. Man erkennt die Taufe Jesu im Jordan, die Predigt Johannes’ des Täufers in der Wüste, die Taufe von zwei Katechumenen, die Taufe des römischen Hauptmanns Kornelius und die Taufe des griechischen Philosophens Craton. (Wikipedia)

Aber auf uns wartet noch die ganz große Herausforderung – am anderen Ende der Straße.

1499-Treppenberg

Nämlich die Montagne de Bueren, der berühmten Treppenstraße.

1507-Treppeseitlich

Dieses Bauwerk verbindet die Altstadt mit der auf dem Berg gelegenen Kaserne der Zitadelle…

1514-Rosentor

…und sorgt seit dem 19. Jahrhundert bei Bewohnern wie Touristen für definierte Waden.

1501-Treppentueren

1528-Treppenpanorama

Nein, aus Spaß keucht man nicht sämtliche 374 Stufen bis nach oben. Man tut das für die Aussicht, denn die ist grandios. Und natürlich, um sich selbst in eitler Pose auf dem Gipfel für die Nachwelt zu verewigen. Einmal lächeln, auch wenn’s nicht leicht fällt. (Endlich hat es sich einmal gelohnt, stundenlang das Stativ durch die Gegend zu schleppen.)

1523-Obenpaar

Und schließlich, um nach erfolgreichem Abstieg schnurstracks hinter der Ecke in die Brasserie Curtius abzubiegen, einen ebenso schnuckeligen wie abgelegenen Biergarten im ehemaligen Ursulinenkonvent mit angeschlossener Mikrobrauerei.

1540-Leuchtbier

Und während man das traulich im Glas leuchtende, vor Ort gebraute Lütticher Bier die durstigen Kehlen herunterlaufen lässt, stellt man fest, dass sich die Frage nach der Seele dieser merkwürdigen Stadt längst erledigt hat. Lüttich, die Janusstadt, hat eben einfach: mehr als nur eine.

Osterüberraschung II

Damit jetzt niemand aus meinem jüngsten Beitrag einen unzutreffenden, gar negativen Eindruck meiner schnuckeligen Heimatstadt aus diesem Blog mit in sein weiteres Leben trägt, seien noch einige Impressionen aus dem Oldenburger Schlossgarten nachgeschoben, den zu besuchen sich am sonnigen Ostersonntag ergab.

Gartenwiese-IMG_20140420_16

Und: Oh, auch das war eine Überraschung. Oldenburg hat nicht nur in punkto, äh, Sternenklarheit mit anderen Großstädten gleichgezogen, sondern auch in Sachen Sonnengenuss – „wie im Englischen Garten“ kommentierte meine Tante den Anblick, der sich uns bot. Und damit hatte sie gleich doppelt recht, denn Herzog Peter Friedrich Ludwig hatte die 16 Hektar große Anlage schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts tatsächlich in Form eines englischen Gartens anlegen lassen. Auch das einfache Volk sollte nach dem Willen des Landesvaters die künstlerisch gestaltete Natur genießen können – einzige Bedingung für das Betreten: gesittetes Benehmen und angemessene Kleidung. Noch in den 50er-Jahren, so steht es in der Wikipedia, war es daher guter Oldenburger Brauch, den Park nur in Sonntagskleidung zu betreten.

Heute haben sich die Kragenknöpfe etwas gelockert und so lümmelt überall auf den Wiesen das meist junge Volk herum, dass man sich wünschte, man hätte selbst eine Picknickdecke, ein gutes Buch und etwas mehr Zeit mitgebracht.

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Die jahreszeitliche angepasste Beetbepflanzung schließlich sorgt noch für ganz andere Impressionen – Oldenburg bietet hier Monetarismus in Rhein-, Verzeihung, Haarenkultur. Da hat das städtische Tourismusamt mit seinem Spruch vom „begehbaren Gemälde“ einmal nicht übertrieben.

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2014 wird der Schlossgarten 200 Jahre alt und hat sich für das Festprogramm mit seinen Ausstellungen, Führungen, Tierexkursionen, Workshops und Aktionen schon entsprechend herausgeputzt. Eine eigene Webseite gibt es auch dazu: Schlossgarten 2014.

Wer schließlich mutig genug ist und sich im Watschelgang mit ausgestreckter Handykamera den Höckergänsen am Schlossteich hinter dem Elisabeth-Anna-Palais nähert, wird nach kritischer Inaugenscheinnahme durch das weitgehend furchtlose Geflügel schließlich mit Nahaufnahmen belohnt. (By the way: Ganz ordentliche Bildqualität, die das Google Nexus 5 abliefert, oder?)

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Welch angenehmer Ort zum Tulpenbummeln das hier ist. Seit meiner Kindheit bin ich schon nicht mehr in den entlegeneren Ecken des Geländes gewesen. Für mich war der Schlossgarten die positive Osterüberraschung des Jahres – auch wenn ich auf der Fahrt dahin über eine leere Kühlerhaube gucken musste.

Wandern im Wein

4587_AhrblickFolgt man dem gewundenen Lauf der Ahr von Ahrweiler aus nach Osten, kommt man hinter Mayschoß in das schöne Winzerdorf Dernau. Ein guter Ort, um an diesem sonnigen Oktobersamstag der ebenso schönen wie seit Schülertagen vernachlässigten Tätigkeit des Wanderns nachzugehen. Also, Fahren zu Fuß. Quasi laufendes Reisen. Und den Motorradfahrern, die das unerwartet angenehme Wetter für eine Saisonausklangsspritztour nutzen, höchstens den einen oder anderen sehnsüchtigen Blick hinterherwerfend.

4588_Weinschach1024Schachbrettartig ziehen sich die Parzellen der Winzer über die Hänge. Durch die Weinberge führt der Rotweinwanderweg rund 35 Kilometer weit von Altenahr bis Bad Bodendorf. Die Gegend bei Mayschoß und Dernau gilt als eines der hübschesten Fleckchen der Route. Mitten durch die Landschaft ziehen sich die Reste des Strategischen Bahndamms, einer nie fertiggebauten Eisenbahnstrecke, an die unter anderem der Silberbergtunnel und die Pfeilerstümpfe eines Viadukts über das Adenbachtal erinnern.

4579_Weintrauben1024Jetzt, kurz vor der Ernte, sind die Trauben prall und süß – und überall vom Weg aus mit der Hand zu greifen. In der Luft liegt der schwere Duft von Trester, der gelegentlich als Häufchen am Wegesrand an die Vor-Ort-Verarbeitung der abgeernteten Trauben erinnert.

4603_WeingeometrieDer Weg wartet mit der einen oder anderen Steigung auf. Auf der Plusseite bietet er hinter jeder Biegung einen neuen spektakulären Ausblick ins Ahrtal. Und ist angenehmerweise weitgehend asphaltiert – statt grobstolliger Wanderstiefel genügen also ein paar bequeme Laufschuhe. Dementsprechend ist auch noch gut was los auf dieser ziemlich beliebten Ausflugsstrecke, wo der Weg tatsächlich das Ziel ist: An jeder Gabelung stehen verpustende oder wegsuchende Wandersleut, wahlweise auf Faltkarte oder Smartphone-Display starrend und schließlich doch die entgegenommenden Kollegen fragend: Geht’s da weiter auf dem Rotweinwanderweg?

4617_Katjaglas1024Zum Glück wartet in schöner Regelmäßig alle paar Kilometer eine kleine Straußwirtschaft, der private Ausschank eines Winzers. Laut Gesetz brauchen die Weinbauern keine Schanklizenz, um an höchstens vier Monaten im Jahr eine eigene Gastronomie zu betreiben. Bier darf’s dafür nicht geben, einfache Speisen schon, dazu muss mindestens ein alkoholfreies Getränk auf der Karte stehen. Mancher Winzer stellt einfach einen Tisch an den Weg, dazu eine Waschgelegenheit für Gläser, dazu Sonnenschirm und eine Preistafel – fertig ist die Unterwegserfrischung. Bleibt dem Laufmenschen nur die Entscheidung zwischen weiß oder rot, Wein oder Sauser?

4638_Marcglas1024Einen Federroten bitteschön. Wandern macht wahrlich durstig. Cheers – äh, Prosit!

4639_WeinfriedhofUnd schon geht’s beschwingt weiter. Erinnern sie nicht ein bisschen an einen Soldatenfriedhof, die kleinen Rebstocksetzlinge mit ihren Stützhüllen, wie sie so brav in Reih und Glied den Hang hinaufwachsen?

4641_MarienthalEin Stück hinter Dernau liegt in einer Falte des Tals das ehemalige Augustinerinnenkloster Marienthal, heute ein von den lokalen Winzern betriebenes Ausflugslokal. Die Ruine der Kirche des Klosters, das auf das Jahr 1137 zurückgeht, bietet einen malerischen Rahmen für das lautstarke Treiben da unten. Da hat sich der eine oder andere den Anmarsch etwas verkürzt und ist stilloserweise statt zwei Füßen auf vier Rädern angereist.

4651_Gelbwein1024Doch für die beiden ungeübten Wanderer oben auf dem Weg heißt es brav weitermarschieren. Sie wollen nämlich noch eine Ortschaft weiter, nach Ahrweiler. Der ehemalige Regierungsbunker, einst das teuerste Bauwerk der Bundesrepublik, heute eine Dokumentationsstätte, ist leider schon geschlossen.

So nehmen die müden Füße die letzten Kilometer in Angriff, während die allmählich untergehende Sonne das Gelb, Grün oder Rot der Weinblätter noch einmal richtig aufflammen lässt. Der Weg führt hinunter ins Tal, an der Römervilla vorbei und schließlich durch die alte Stadtmauer ins fachwerkerne Herz von Ahrweiler.

Unten angekommen, am Marktplatz im Schatten der Laurentiuskirche, lässt’s sich nett erholen. Natürlich bei einem Gläschen Federweißen und einem Stück Zwiebelkuchen. Ersteres frisch abgefüllt, das zweite frisch gebacken. Schon erstaunlich, wie weit man ohne Rad und Motor in ein paar Stunden kommen kann.

Dann geht es zurück nach Dernau. Mit der Regionalbahn. Man muss das mit dem Reisen zu Fuß ja auch nicht übertreiben.

Künstlerisches

Meine Woche als Curator für wirlebenAC geht allmählich dem Ende entgegen. Hier mein Blogposting über den sechsten Tag, aus dem Projektblog herüberkopiert. Nochmal für alle Neulinge: Bei wirlebenAC twittert je eine Woche lang ein neuer soganannter Curator zum Thema Aachen. Er schreibt dabei im Twitterprofil von wirlebenAC (nicht seinem eigenen). Jeweils montags um 12 Uhr ist Stabübergabe, dann wird auf der Twitterseite Name und Avatarbild geweschselt. Wer mitmachen will, kann sich hier bewerben.

Woche 16 – Tag 6

Nachdem der Freitag für Euren Curator Nr. 16 tatsächlich ein freier war, habe ich heute die Kühlerhaube des Moorbraunen wieder gen Westen ausgerichtet. Allerdings gen Südwesten: Das Ziel war Monschau, wo im Kunst- und Kulturzentrum KuK eine Fotoausststellung mit Bildern von Andreas Feininger zu sehen ist. Monschau ist zwar nicht mehr ganz Aachener Vorstadt und damit die Kernthematik von wirlebenAC – andererseits, wo fährt der Öcher am Wochenende gern mal hin?

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Zu Andreas Feininger möchte ich nur sagen, dass ich schon als Teenager seine phänomenalen New-York-Ansichten auf Postkarten gesammelt habe und seine „Route 66“ bis heute über meinem Küchentisch hängt. Diese Bilder einmal in Originalabzuggröße zu sehen (viele sind erstaunlich klein, wenn man nur die übergroßen Posterdrucke aus den Möbelhäusern kennt), war beeindruckend. Und Feiningers Makro-Serien – etwa aufgesägte Muschelschalen, Gorillaknochen oder ein Blick in den Lauf eines Marine-Geschützrohres – kannte ich noch gar nicht. Wer sich für Fotografie interessiert: Unbedingt Hinfahren! (Außerdem ist der Eintritt frei.) Hier findet Ihr Bilder des Künstlers bei Google (viele davon sind in der Schau zu sehen), hier seine Biografie in der Wikipedia.

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Ein Sightseeing in Monschau selbst war zwar an sich nicht geplant, aber wenn man schon mal da ist –

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– kann man ja durchaus mal ein bisschen an den üblichen Touristenaussichtspunkten mit der Kamera rumspielen –

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– und sich von den Einheimischen mit Senftöpfchen bewerfen lassen. Dann geht es weiter ins niederländische Dörfchen Epen, rund 13 Kilometer westlich von Aachen gelegen und über die bezaubernde Mergellandroute von Vaals aus kurvenreich erreichbar. Einfach von der Vaalser Straße hinterm ehemaligen C1000 nach links abbiegen und dann immer geradeaus.

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Ins Restaurant Gerardushoeve in der Julianastraat hatte ein guter Freund zum Geburtstagessen geladen. Ist schon das gute Essen die Anfahrt wert, ist es der Panoramablick ins Limburger Land von der Terrasse aus erst recht. Hach, schon wieder eine Gelegenheit, das Stativ auszupacken!

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Der Anblick des Dreibeins ermutigt eine Gruppe Niederländer, mich um ein arrangiertes Foto der vier in einem aufgestellten Porträtbilderrahmen (was für eine nette Idee!) zu bitten. Dieser Anblick ermutigt wiederum meinen Freund Karl, statt solange einfach nur brav meine Kamera festzuhalten, mit selbiger den Künstler bei der Arbeit zu porträtieren.

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„…jaaa, geben Sie alles!“

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Dann wird serviert. Wenn auch noch nicht sofort schnabuliert. „Bevor es das Internet gab, gab es warmes Essen“, sinnierte @VolkerGoebbels neulich beim Aachener Schnitzeltestessen im Forckenbeck. Zu recht. Nun ja, Lebensmittelfotografie ist eine hohe Kunst (nicht, dass sie der Autor dieser Zeilen beherrschen würde), das dauert seine Zeit. So darf der hausgeräucherte Lachs noch ein paar Gnadenminuten lang vor dem Objektiv posieren, ehe er den Weg allen Fleisches antritt.

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Irgendwann ist die Nacht über die Feiernden herabgesunken. Der Blick von der Terrasse ins mittlerweile dunkle Land erfreut das Auge noch immer. Der Lichtschein rechts am Horizont müsste Aachen sein.

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Die gutgelaunten Holländer schließen ihre Gaststube auch am Samstag für unsere Verhältnisse früh, um 22.30 Uhr. Für die Aachener und ihre Gäste heißt das: ab nach Hause. Wo auch immer das jeweils liegt. Immerhin: Auch auf dem Weg nach Köln fährt man noch einmal quer durch die Kaiserstadt.

[Hier geht’s zu Tag 5.]

Meilenwerk: Düsseldorf

Es ist der 30. September 2012. Udo Jürgens wird an diesem Tag 78 Jahre alt, ich gottseidank nur 42. Da aber auch das eine ganz besondere Zahl ist, hat ein sehr lieber Mensch einen ganz besonderen Tag für mich arrangiert. Er führt uns im schokoladigsten Dieselcoupé westlich des Rheins eine gute halbe Autostunde flussaufwärts mitten in das, was Kölner die verbotene Stadt nennen.

106Dort wird der Moorbraune mit schöner Aussicht geparkt. In seinem Rücken liegt, was ich bislang nur aus schwärmerischen Erzählungen von Tagesausflügen anderer Leute kannte.

143Das Meilenwerk. Halt, seit einem Jahr heißt es ja „Classic Remise„. Hintergrund der – in meinen Augen wenig glücklichen – Umbenennung ist ein verworrener Streit um die Rechte am Namen Meilenwerk. Sei es, wie es sei, der Ort ist immer noch einzigartig und hat eine fantastische Atmosphäre. In einem um 1930 erbauten Ringlokschuppen der Bahn ist etwas entstanden, das sich in der Wikipedia schwulstig „Dienstleistungszentrum rund um die Themen Motorrad und Automobil mit Spezialisierung auf den Bereich der Klassiker, Oldtimer und Sammlerfahrzeuge“ nennt.

151Kurz: Hier werden gebrauchte Oldtimer ausgestellt, zum Kauf angeboten und in zahlreichen Werkstätten restauriert. Aber lassen wir lieber die Bilder für sich sprechen. Oder besser: die darauf abgebildeten Protagonisten.

146Wo einst Dampfloks aus dem Schuppen auf die Drehscheibe rollten, schillert heute hochglanzpoliertes Blech unter einem transparenten Dach – so wie dieser Jaguar XK 120 FHC, laut Verkaufsschild frisch reingekommen, für nur 120.000 Euro.

149Rund 150 Meter Durchmesser hat das Halbrund voll mobilen Kulturguts. Bürgerliche W123er mit ehrlicher Alltagspatina oder irgendwelche runtergerockten Leichenwagenwohnmobile sind hier allerdings nicht zu bestaunen oder gar erwerben. Wie es sich für Düsseldorf gehört, darf es schon ein Löffelchen Butter mehr sein. Lagonda, Maserati, Ferrari, Porsche… und natürlich auch eine ganze Palette Sternenschiffe aus Stuttgart. Man will ja auf der Kö Neid erregen, kein Mitleid.

156Aber bei aller Affinität zu Daimler & Benz: 107er-SLs und 116er-S-Klassen schaue ich mir doch lieber in Ornbau an. Einen waschechten Maserati Khamsin dagegen kriege ich so schnell nicht wieder vor die Linse… (Höchstens einen Quattroporte III, aber das war ja auch ein Glücksfall.)

144Nicht, dass sich nicht auch der eine oder andere liebenswerte Geselle mit etwas weniger Überholprestige unter all den Premiummobilen vergangener Jahrzehnte verstecken würde. Etwa diese schnuckelige heckgetriebene Autobianchi Bianchina, mit ihren 7500 Euro sogar geradezu erschwinglich. Allerdings auch die einzige im Saal, auf die dieses Etikett zutrifft.

157Egal. Ich habe mich gerade verliebt. Können Sie mir bitte zwei von diesen hübschen roten Alfas einpacken?

158Und dann ist da natürlich noch die Insel-Fraktion. Die Raubkatzen. Die Langgestreckten. Die, denen die laszive Eleganz schon in die Wiege gelegt wurde (sowie diverse elektrische Gendefekte, aber das spielt im milden Licht des zu Ende gehenden Herbsttages gerade keine Rolle).

162Sie können, wie dieser knallrote Zwölfzylinder-XJS, mit wunderhübschen Details aufwarten, wie diesem verchromten Tankdeckel. Mit dessen liebevoll gestalteter Schlüsselabdeckung man im Lauf der Zeit sicher öfter in Berührung kommt, als man möchte.

Was mich sanft zurück auf den Boden der Realtität holt. Die moorbraune Tankklappe eines gewissen Dieselcoupés mag ja weniger Erotik versprühen, dafür muss man sie bei Reichweiten von über 1000 Kilometern aber auch nicht ganz so oft in die Hand nehmen.

Was für ein Nachmittag. Bestimmt nicht mein Letzter hier. Denn das ist ja der Vorteil eines Dienstleistungszentrums mit Spezialisierung auf den Bereich Klassiker: Es kostet nicht nur keinen Eintritt, es sind auch bei jedem Besuch neue Exponate zu bestaunen. Mal schaun, welche Strahleaugen uns beim nächsten Mal den Kopf verdrehen. So eine süße rote Giulietta als Zweitwagen, das müsste man doch irgendwie hinkriegen…

Baskenblog: Beaune

Kleiner Rückblick: Im September 2008 tourte ich mit Marit, meiner Suzuki Freewind, für anderthalb Wochen durch Südeuropa. Das Ziel: San Sebastián an der spanischen Nordküste – ich hatte noch Resturlaub und der Name der Stadt gefiel mir einfach. Über Orleáns ging es die Loire entlang nach La Rochelle, die Küste hinunter zur Dune du Pyla und weiter nach San Sebastián. Dann über Bilbao – mit einem Abstecher ins Guggenheim-Museum – und Vitoria zurück über die Pyrenäen (mit einem Stop am Geisterbahnhof Canfranc) zurück nach Frankreich. Dort fanden sich noch Carcassonne und Lyon auf der Besuchsliste, bevor die letzte Etappe anstand – heim nach Aachen.

Wenn ich jetzt zurückschaue, markierte das Baskenblog – unter diesem Namen entstanden die 18 Beiträge – einen Wendepunkt in meiner Bloggerei. Anfangs hatte ich noch versucht, wie auf der Norwegenfahrt im Frühjahr 2008, möglichst alles „live“ von unterwegs zu bloggen. Facebook und Twitter waren ja damals noch in weiter Ferne. Doch das Bloggen unterwegs machte immer weniger Spaß. Was zum einen an der schon 2008 krätzigen Bedienoberfläche meines Bloghosters Twoday.net lag (an der sich bis heute, 2013, anscheinend nicht das geringste geändert hat). Zum anderen daran, dass sich keine Gelegenheiten mehr fanden, unterwegs Bilder zu bearbeiten oder längere Passagen zu schreiben. Auch iPhone, Netbook oder iPad hatte ich damals noch nicht.

Von der Zeit ganz zu schweigen: Bis dahin hatte ich immer versucht, die Reise möglichst genau zu dokumentieren – dieser Aufwand wurde mir mit der damaligen Blogsoftware einfach zu groß. Die letzten Baskenblog-Beiträge entstanden denn auch nach der Rückkehr in Aachen. Danach nahm die Zahl der Blogbeiträge auf Moorbraun.twoday.net und Pilotblog.blog.de tendenziell immer weiter ab. Dass man bei Twoday keine Bilder größer als 400 Pixel Breite einstellen konnte und jedesmal eine Großversion bei Flickr verlinken musste, verdarb mir den Spaß am Bloggen immer mehr.

Seit August 2012 läuft jetzt www.marc-heckert.de als Hauptblog auf WordPress, die Artikel von Moorbraun.twoday.net und Pilotblog.blog.de (sowie dem Experimentierblog Printenheim.blogspot.de) sind zum großen Teil schon hierher herüberkopiert. Was zwar bei den vielen hundert seit 2007 geschriebenen Artikeln, die meisten davon reichlich bebildert, eine ziemliche Sisyphosaufgabe darstellt – aber man muss zugeben, mit WordPress macht selbst diese Arbeit geradezu Spaß. Ich bin wirklich glücklich, umgestiegen zu sein. Die Software (aktuell läuft hier Version 3.5) bietet alles, was das Bloggerherz begehrt und ist wunderbar benutzerfreundlich.

So benutzerfreundlich sogar, dass ich nach dem Herüberholen der 18 Baskenblogeinträge von 2008 noch eine letzte Episode nachschieben will. Auf dem Weg von Lyon zurück nach Aachen gab es nämlich noch etwas, das ich mir unbedingt angucken wollte: das Hôtel-Dieu in Beaune. Das um 1450 entstandene Armenhospital ist ein absolutes Highlight und eine eigene Reise wert. Folgt mir also zurück ins Jahr 2008 und in ein schnuckeliges 22.000-Einwohner-Städtchen im schönen Burgund!

Samstag, 4. Oktober 2008. Nach dem Frühstück in der Jugendherberge Lyon gönne ich mir einen teils belustigten, teils neidischen Blick auf die Gruppen von Gästen, die hinter ihren Note- und Netbooks sitzen. Wäre ja schon schick gewesen, unterwegs mobil vernetzt zu sein. Doch mein Laptop, ein Fujitsu-Siemens Amilo, war einfach zu unhandlich und empfindlich, um zu Regenkombiwurst und Reservekanister in Seitenkoffer oder Topcase gequetscht zu werden. Und mein Handy, ein HTC XDA Orbit 2, kann zwar Navigation, Radio, UMTS und WLAN. Ansonsten ist es aber mit seinem Betriebssystem Windows Mobile – zu bedienen mit Hilfe von einer erklecklichen Zahl von Ausklappmenüs und einem Stylus – viel zu fisselig, als dass man damit irgendwie kreativ tätig werden könnte.

9480_Innenhof

Nun denn, gebloggt wird also zu Hause. Nach gerade 160 Kilometern knattert Marit durch die Straßen von Beaune. Das Hôtel-Dieu als Hauptattraktion ist leicht zu finden, wenn man die Stadt zunächst zweimal umrundet.

Im Jahr 1443 hatten der burgundische Herzog Nicolas Rolin und seine Frau Guigone de Salins die Idee, der notleidenden Bevölkerung ein Krankenhaus und Armenhospiz zu stiften.

9490_Wetterfahne

Es sollte allerdings nicht nur irgendein Krankenhaus werden, sondern bitteschön eines der schönsten Hospitäler Europas. Nach flandrischem Vorbild entstand ein einzigartig reich ausgestattetes Gebäude, das bis heute weitgehend unverändert erhalten geblieben ist. Auffälligstes Merkmal von außen ist das bunt verzierte Dach aus glasierten Terrakottaziegeln.

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Im großen Armensaal herrscht Dämmerlicht – die Ärzte glaubten im 15. Jahrhundert, Krankheitserreger verbreiteten sich mit der Luft. Also wurden die Fenster so klein wie möglich gehalten. Die Luft im Inneren wurde „gereinigt“, indem man Heilkräuter verbrannte. Die Kranken lagen zu zweit in den Betten, um sich gegenseitig zu wärmen, denn eine Heizung gab es nicht.

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Im Inneren wandert der Besucher durch Schlaf- und Pflegesäle für Kranke und Sterbende, eine Apotheke, eine große Küche und ein Labor für die Herstellung von Arzneien. Hinter den Glastüren der Apothekenschränke warten unzählige Flakons und Tiegel mit den verschiedensten Mitteln auf die Leidenden.

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Mit Puppen wird das Innere des Museums zum Leben erweckt, etwa hier die Küche – wohl der Traum jeder Hausfrau der Renaissance mit ihren gänsehalsförmigen Wasserhähnen…

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…und dem vollautomatischen Bratenroboter, der das Fleisch am Spieß genau nach Vorgabe rotieren lässt.

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Auch an Kunstwerken ist das Hôtel reich ausgestattet. Berühmtestes Werk ist der neunteilige Flügelaltar „Das jüngste Gericht“ von Rogier van der Weyden in der Kapelle.

Kein Zweifel, das Ehepaar Rolin war nicht nur spendabel, es hat sein Geld auch langfristig gut angelegt. Das Hôtel ist wirklich ein fünfeinhalb Jahrhunderte altes Juwel.

Beim Herausgehen fällt mir noch diese Marmorbüste dieses Herren auf: Marschall Gaspard de Clermont-Tonnerre (1688-1781). Er war Nachfahre des Stifters Nicolas Rolin und Patron des Krankenhauses.

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Laut einer Hinweistafel hatte er eine erfolgreiche Militärkarriere unter Ludwig XV. und wurde zum Marschall Frankreichs ernannt. Was für ein Charakter er war, weiß ich nicht – aber er wird mir in Erinnerung bleiben als der Marmorkopf (gerade im Vergleich mit Admiral Duperré in La Rochelle und Admiral de Olquendo in San Sebastián), der auf der ganzen Reise am nettesten lächelte.

Der Rest der Reise ist schnell erzählt. Auf dem Weg nach Norden wird es schnell dunkel und regnerisch. Ich bin müde und geschlaucht. Bis nach Aachen sind es noch 570 Kilometer, die sich auf einer Motorradbank sehr, sehr lange dehnen können. Und im Dunkeln fahre ich eh nicht gerne, seit mir mal auf der nächtlichen A1 ein abgerissener Lkw-Frontstoßfänger auf der Nebenspur den Schreck des Monats eingejagt hat.

Ich rufe Wolfi in Landau an – und lade mich quasi ein. Gottseidank hat Wolfi erstens tatsächlich Platz für einen Schlafsack frei und zweitens nichts besseres zu tun. Der Tag endet gemütlich bei Pizza, Tannenzäpfle-Bier und Dieselsprech in Wolfis Bastelstube. Sehr viel weiter hätte ich es an diesem Abend auch kaum noch geschafft.

Sonntag, 5. Oktober 2008. Landau – Aachen. Endgültig letzter Abschnitt der Reise von fast 4000 Kilometern. Mit müden Knochen und halbleerem Tank schleiche ich im Dauerregen durch die Eifel. Mitteleuropa hat uns wieder. Oh, hätte Marit doch ein paar PS mehr! Immerhin: Zu Hause warten heißer Milchkaffee und Aachener Streuselbrötchen. Bei allen Pintxos des Baskenlandes: Es ist ja auch nicht alles schlecht zu Hause.