Rudeltatort

Lang, lang ist’s her, dass ich zuletzt live gebloggt habe. Heute soll es mal wieder soweit sein, und dazu noch in Form einer Premiere – nämlich von der wöchentlichen Tatort-Übertragung aus dem Café und Bar Zuhause. Der plüschig-gemütliche Laden mit seiner imposanten, mehrseitigen Whisky-Karte hat sich in den letzten Wochen zu meiner aktuellen Lieblingslocation gemausert. Außerdem glänzt er mit prima WLAN und netter Bedienung.

Der Tatort wiederum ist, das muss ich mal vorwegschicken, ein ausgesprochen hellgrauer Fleck auf meiner sozialen Google Map. Als jahrelanger Fernsehverächter habe ich die Kultserie eigentlich nur in Form von kritisch-amüsierten Kommentaren auf Twitter oder den Filmkritiken auf Spiegel Online wahrgenommen. Selbst die legendären Köln-Tatorte konnten mich nicht aus meiner antipathischen Lethargie reißen, obwohl ich diverse Male an der berühmten Bratwurstbude („Bratort“) am Rheinauhafen vorbeigeradelt bin. Heute nun soll der lethargischen Antipathie ein Ende gesetzt und die TV-Terra-Incognita erobert werden. Tatortrudelgucken mit paralleler Twitterverfolgung – das Beste aus sämtlichen Welten!

Da ich und mein Notebook eine betastbare Unterlage brauchen, radele ich schon eine gute Dreiviertelstunde vor der magischen 20.15-Uhr-Marke auf dem Rad die Sandkaulstraße hinauf. Sagte ich „schon“? Überraschung: Der Laden ist bereits weitgehend voll. Immerhin findet sich im Hinterzimmer, wo schon der ARD-Weltspiegel auf eine Großleinwand gebeamert wird, noch ein Plätzchen, gar mit Tisch. Die Saaltür schließt der nette Kellner sofort hinter mir – „wegen des Tonversatzes“. Ich erschließe mir selbsttätig, dass man so die Zeitdifferenz zwischen den Übertragungen auf der Leinwand und den beiden Fernsehern vorne im Lokal nennt. Hat sich das Bergaufstrampeln schon mal gelohnt: Wieder ein neues Wort gelernt.

zuhause

Der Saal füllt sich. Kurz scheint das Glück zu lächeln, als sich eine junge Schönheit nach dem Besatzungsstatus des Stuhls neben mir erkundigt und auf selbigem platziert. Dann ist das Glück schon wieder anderweitig beschäftigt: Ihr Freund schwenkt einen dritten Stuhl über meinen Kopf herbei und quetscht sich damit in die Mitte. Was soll’s, ich bin ja auch nicht aus Spaß hier.

Ein paar Minuten später steht ein Eifeler Landbier neben der Tastatur und wärmt eine Pizza Speciale (vom Italiener nebenan geliefert) im Karton meinen Schoß – kann losgehen. Bremer Tatort, prima. Vielleicht erkenne ich Ex-Nordlicht ja auch dabei etwas wieder? Schließlich die Startfanfare, die Augen, das Fadenkreuz, schon sind wir drin. Im trüben Schein meines runtergedimmten Notebookdisplays fingere ich Pizzaachtel aus dem Karton und in den Mund. Großes Hallo im Saal, als sich gleich zu Anfang ein bulimiekranker Nebendarsteller unverbrämt in ein Klo übergibt. Ich bin hörbar nicht der einzige im Raum, der plötzlich ebenfalls mit Appetitlosigkeit kämpfen hat.

Während das bizarre Wiederaufgetauchte-Vielleichtauchnicht-Tochter-Familiendrama seinen Lauf nimmt, stoße ich auf weitere Probleme. Teile des Pizzabelags weichen im Dunklen von der vorgegebenen Route ab. Zugleich versuche ich in erfolgloser Verkrampfung, das Restlicht des Displays aus dem Blickfeld meiner Sitznachbarn zu halten und trotzdem originelle Sätze zustandezubringen. Was schlechter gelingt, ist schwer zu sagen. Nein, aus Spaß sind wir nicht hier.

Ratlos starren Lürsen und Stedefreund (warum heißt der Mann eigentlich wie ein Herforder Stadtteil?) in die Leere, in der sich ihre Ermittlungen verlaufen. Ist Fiona nun die Tochter ihrer Mutter oder nicht? Schwer zu sagen, noch schwerer zu erklären, Tatort halt, ihr kennt das. Ein Block Notizkarten wandert durchs Publikum. „Täterraten“, erklärt mir der Nachbar auf meinen fragenden Blick hin. Ich tippe auf das Muttertier, weil das noch als einziges unverdächtig erscheint. Als Krimi-Profi weiß man ja, dass – sofern kein Gärtner im Spiel ist – am Ende grundsätzlich die unwahrscheinlichste Randfigur abgeführt wird.

Und was passiert? Genauso kommt es auch. Der Mörder war der bulimiekranke Nebendarsteller vom Anfang – tatsächlich der einzige Charakter, der noch unverdächtiger ist als die Mutter. Es wird noch einige Liter Eifeler Landbier brauchen, bis ich mich halbwegs erfolgversprechend in die Hirnwindungen der ARDrehbuchschreiber werde einfühlen können.

Abspann. Kaltes Licht geht an. Ernüchterung macht sich breit. Einziger Trost: Ganze zwei Gäste haben richtig geraten. Sicher Stammkunden. Verdammte Streber.

Auf Twitter und bei Facebook sind sich die meisten Kommentatoren einig: Ausnahmetatort, tolle Darsteller. „Mehr Stedefreund bitte!“ Auf der Leinwand betalkt derweil Günther Jauch den griechischen Finanzminister Giannis Varoufakis. Der Zauber der TV-Unterhaltung: restlos vorbei. Es ist eh das Leben, in dem die größten Krimis ablaufen. Die Rechnung bitte.

Nächste Woche kommt der Tatort aus Berlin. „Das Muli“ heißt die Folge.

Mal schaun.

Autsch

Der Schmerz setzte mitten auf dem Bürgersteig ein. So muss es sich anfühlen, wenn man eine Rückenmarksspritze in die Lendenwirbel gesetzt bekommt und der Anästhesist just in dieser Bewegung an seinen Vermieter denken muss.

Der Verfasser dieser Zeilen zuckte erst, stockte dann und blieb Millisekunden später in einer komischen Bewegung eingefroren auf dem Gehweg stehen. Wie eine dieser bronzenen Sinnfiguren, mit denen weniger einfallsreiche Stadtväter ländlicher Kommunen ihre Dorfplätze zu verschönern gedenken – „Tauben fütternder Tattergreis“ etwa oder „Marktfrau mit Kiepe und Adipositas“. Aber bitte, lieber Künstler, nicht zu abstrakt. Man soll ja noch erkennen können, was es darstellt.

Ein halbwegs aufgeweckter Zuschauer hätte denn auch keinen Publikumsjoker bemühen müssen, um zu raten, dass der Amateurpantomime da in der morgendlichen Seitenstraße des Adalbertsteinwegs „Hexenschuss“ mimte.

Als das Aachener Ostviertel aufgehört hatte, sich um ihn zu drehen, nahm die menschliche Salzsäule all ihren Mut zusammen und setzte sich kirschend und ruckend wieder in Bewegung. Den Rest dieses und des folgenden Tages blieb ein höchst spezieller Gesichtsausdruck – von einem Kaubonbon die Plombe gezogen zu bekommen, um im Reich der Metaphern zu verweilen – der treue Begleiter unseres Autors.

Eine Blisterpackung Schmerztabletten aus der Apotheke in Kombination mit selbstbewusst bepreisten Wärmekissen zum Umschnallen versetzte ihn nach und nach wieder in die Lage, seiner Tätigkeit nachzukommen – und einen mehr oder weniger ambitionierten Text über das Erlebte zu verfassen.

Offen blieb die Frage: Was wollte ihm sein Körper damit sagen? „Bedenke, dass auch du sterblich bist“? Diese klassisch-römische Weisheit hatten ihm bereits Asterix & Obelix nahegebracht. Vielleicht war es einfach nur ein Wink, öfter mal innezuhalten. An den Blumen am Wegesrand zu schnuppern, wie es so schön heißt.

Wenn das die Absicht war, so ist sie gescheitert: Das letzte, was der Verfasser dieser Zeilen auf absehbare Zeit tun wird, ist, sich nach irgendwelchem Grünzeug auf dem Boden zu bücken.

[Geschrieben als „Gedanke des Tages“ für AmAbend.com, 4. Februar.]

Überhaupt, die Kölner

Des Aacheners Beziehung zu Köln ist zwiegespalten: Einerseits entlockt ihm der doppelspitzige Dom (gerade mal hundert Jahre alt ist er!) nur ein nachsichtiges Lächeln. Andererseits gibt er zähneknirschend zu, dass es so etwas wie pulsierendes Nachtleben durchaus auch 70 Kilometer weiter westlich gibt. Und dann sind da noch die Kölner. Denen ja selten vorgeworfen wird, an Selbstunterschätzung zu leiden.

Zweieinhalb Jahre lang ertrug der Schreiber dieser Zeilen mannhaft das selbstgewählte Schicksal, täglich von der einen in die andere Domstadt zu pendeln. „Kölle wird dir gefallen“, hatten ihm Kollegen versichert. Läden, Restaurants, Clubs: Köln habe alles, was das Herz begehrt. Und dann wären da noch die Kölner – herzlich, weltoffen, kontaktfreudig.

Was soll er sagen? Der Funke ist nicht so ganz übergesprungen. So reizvoll es auch war, stets eine reiche Auswahl an äthiopischen Restaurants an der Hand zu haben, sich auch zu nächtlicher Stunde von der Straßenbahn heimschaukeln zu lassen (oh, was haben sich die Aachener nur mit ihrem „Nein“ zur Campusbahn angetan!) – lodernde Liebe ist nicht entflammt zur Stadt am Rhein.

Als ihn das Schicksal dann wieder in die wahre, echte und einzige Domstadt zurückwehte, war es für den Schreiber dieser Zeilen das reinste Nachhausekommen. Was Oche an Nähe und Heimeligkeit hat, kann Köln nicht bieten: Mit dem Fahrrad zur Pontstraße, zu Fuß durch die Innenstadt, auf Joggingschuhen durch den Öcher Bosch, mit dem Auto mal eben nach Maastricht. Herrlich.

Die niederländische Nachbarstadt war es auch, in der der Schreiber dieser Zeilen die Silvesternacht verbrachte. In Gegenwart einer internationalen Truppe, allesamt Mitglieder des weltweiten Beherbergungs-Netzwerks CouchSurfing. So wohltuend es war, mit pakistanischen Robotik-Ingenieurstudenten, brasilianischen Opernsängerinnen, mit Belgiern, Polen und Niederländern zu feiern – so peinlich war es auch, auf die Pegida-Bewegung angesprochen zu werden.

Die Welt habe doch bei der WM 2006 über das offene, fröhliche Deutschland gestaunt, erklärte mir ein Belgier. Ist das jetzt schon wieder vorbei? Die Stimmungsmache gegen Flüchtlinge, Moslems und Ausländer in Dresden und anderswo ist auf dem besten Weg, unseren neuen, positiven Ruf im Handumdrehen zu zerstören. Für den Schreiber dieser Zeilen legte sich ein Schatten über den Jahresbeginn.

Und dann waren da noch die Kölner. Als am Montagabend bundesweit wieder Pegida und ihre Gegner aufmarschierten, da konnten am Rhein die paarhundert anti-muslimischen Kögidisten nicht einmal einen Sprechchor starten, so laut war der Gegenwind der vielen Tausend Gegendemonstranten. Dom, Rheinbrücken und diverse Gebäude blieben zappenduster. Es war ein bunter, fröhlicher, lauter Widerstand gegen Ausgrenzung und Angstmache.

Dem Neu-Aachener Ex-Kölner ward es innerlich ganz warm. Ihre Innenstadt mag nicht so hübsch sein wie unsere, die Wohnungsmieten unverschämt hoch, die Straßen chronisch verstopft – aber das Herz haben sie am rechten Fleck, die Kölner. Gute Menschen bleiben gute Menschen, egal wo sie wohnen, egal wo sie herkommen. Und so ruft er rüber an den Rhein, versöhnt mit der abgewählten Wahlheimat: Habta jut jemacht, wa!

[Geschrieben als „Gedanke des Tages“ für AmAbend.com, 6. Januar]

Mein Date mit einem Eimer Eiswasser

Jetzt hat sie mich also auch erwischt, die Ice Bucket Challenge. Von der eigenen Schwester ins eiskalte Wasser geworfen, sozusagen.

(Sorry für den schlechten Ton.)

Weil die ALS-Forschung im Moment gerade nicht unter Unterfinanzierung leidet, geht meine Spende an den Verein Solwodi Deutschland e.V. / Solidarity with Women in Distress, der Frauen unterstützt, die von Menschenhandel, Zwangsprostitution, Beziehungs- und sonstiger Gewalt bedroht sind.

Da sind wir wieder. Die Dritte

Kraftfahrzeuge umzumelden, ist nichts, was einem der Arzt zur Stimmungsaufhellung verschreibt. Dreimal hatte ich das Vergnügen in den vergangenen Wochen. Erst für den Weißen, dann Marit, zuletzt den Moorbraunen. Dreimal dasselbe muntere Spielchen: An einem freien Vormittag die Fahrzeugpapiere zusammensammeln, Bargeld mitnehmen, von der Autoversicherung telefonisch einen EVB-Code einholen, zur Kfz-Zulassungsstelle nach Würselen fahren, Wartemarke ziehen, bis zu zwei Stunden lang auf dem Smartphone herumdaddeln (bis der Akku alle ist und man an die SMS mit dem EVB-Code nicht mehr rankommt, aber das ist eine andere Geschichte) – und irgendwann schließlich die Anmelde- und Bezahlprozedur für das jeweilige das Gefährt inklusive Fußmarsch übers Gelände zum nächstbilligen Schildermacher. Ich liebe es. Nicht.

Beim letzten Umzug nach Köln kostete der Spaß für sämtliches Geräder irgendwas um die 150 Euro, inklusive der neuen Nummernschilder. (Weshalb nun nach dem Rück-Zug nach Aachen Marit, die Freewind, bis auf weiteres mit dem Kölner Kennzeichen durch die Lande öttelt. Mittlerweile darf man nach einem Ortswechsel die Schilder ja behalten.)

Heute hat der Schokoladenfarbene den Heimzug der Flotte komplettiert. Und was soll ich sagen, es war diesmal etwas billiger:

braun-oche

Gut, dass ich die alten Schilder noch im Keller liegen hatte.

(Für alle, die deren Sinn nicht verstehen: OM 616, das ist der Mercedes-Werkscode für den OelMotor 616, jenen ursoliden 2,4-Liter-Vierzylinder mit 72 PS, den ich dem Coupé im Mai 1995 einbauen ließ.)

Wie viele Autos es wohl gibt, die dasselbe Kennzeichen im Abstand von einigen Jahren zweimal tragen dürfen?

Einbürgerungstest

Ich: „Verzeihung, wo bekomme ich denn hier eine Wartemarke?“
Behördenmann: „Nirgendwo!“
Ich: Verständnisarmer Blick. (Das Einwohnermeldeamt hat doch durchaus noch geöffnet?)
Behördenmann: „Nirgendwo! Sind heute aus!“

Schild an der Wand: „Die Ausgabe von Wartemarken kann bei hohem Besucheraufkommen vorzeitig eingestellt werden.“

Och Oche. Na gut, bleib ich halt noch ein paar Tage Kölner. Bis dahin hab ich mich auch wieder über die Öcher Kodderschnauze abgeregt.

Mitfahrgelegenheit VIII: Das Duo

„Am Hauptbahnhof“ lautet eine häufige Antwort, wenn ich meine abendlichen Mitfahrer frage, wo in der Domstadt Köln ich sie absetzen darf. Ich bemühe mich dann stets, möglichst zartfühlend zu erklären, warum ich als Südrandlagenbewohner wenig Neigung verspüre, im Abendverkehr nochmal eben schnell mitten ins Herz der Millionenstadt zu fahren. Für die Nichtkölner unter euch aber gerne hier die Erklärung in der Langversion: Köln ist groß. Sehr groß sogar. Selbst von der günstigsten Autobahnabfahrt aus dauert es je nach Verkehrsdichte mindestens 20 bis 40 Minuten zum Bahnhof – und zwar pro Fahrt. Ich käme also im günstigsten Fall 40 Minuten später nach Hause, im ungünstigsten fast anderthalb Stunden. Selbst für einen Extra-Euro hängt da die Money-Life-Balance in einer gewissen Schieflage. Also werfe ich 95 Prozent meiner Mitfahrer an der Straßenbahnhaltestelle Sülzgürtel ab, von wo aus die Linie 18 sie in einer knappen Viertelstunde ohnehin schneller zum Hauptbahnhof bringen kann als ich mit dem Auto.

Es gibt aber auch Ausnahmen, und von einer möchte ich jetzt erzählen. Im letzten Winter war es, und zwar im letzten richtigen Winter – also nicht im Dauerfrühling 2013/14, sondern in der Zwischeneiszeit 2012/13, als ein nicht enden wollendes halbes Jahr lang sich eine wochenlange Schnee- und Kältewelle mit der nächsten abwechselte. Die A4 war ein 60 Kilometer langes, permagefrorenes Eis- und Matschband und ich so froh wie noch nie im Leben, mir die besten Winterreifen gekauft zu haben, die es für Geld zu kaufen gab. Zwei Glatteisunfälle ereigneten sich in ebendiesem Winter auf ebendieser Autobahn just vor meinem Kühlergrill, die Zahl der von der Straße gerutschten Autos weiß ich nicht mehr.

In diesem Winter also, an einem rasch dunkler werdenden Nachmittag – es fielen schon wieder dicke Flocken auf die in den vergangenen Wochen immer weiter verdickte Schneedecke – buchte ein Mitfahrer. Zwei Plätze, für die Fahrt ab 19 Uhr von Aachen nach Köln.

Schon zum Treffen am Bahnhof Rothe Erde erschien ich etliche Minuten zu spät, weil es so lange dauerte, auf dem Firmenparkplatz die Autoscheiben vom Eis freizukratzen und anschließend über die glatten und zugleich verstopften Straßen hinzukommen.

Am Bahnhof warteten ein Afrikaner von etwa Mitte Vierzig und ein Mitteleuropäer, der noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatte und kein Wort sagte. „Er ist taubstumm“, erklärte mir der Afrikaner, während er vorne Platz nahm. Ich gestikulierte ein „bitte Anschnallen“ in Richtung Rückbank, was der Mann mit einem Daumen-Rauf-Zeichen quittierte und der Bitte folgte. So machten wir uns vorsichtig auf den Weg – im Schleichtempo.

Auch auf der Autobahn ging die Sache kaum schneller vonstatten. Der Schneefall wurde immer heftiger, mittlerweile war es auch stockdunkel geworden. Fahren war fast nur auf der rechten Spur möglich, wo sich eine langsame Kolonne mühsam ostwärts quälte. Wann wir wohl da sein würden, erkundigte sich der Mann auf dem Beifahrersitz besorgt. Normalerweise brauche ich für die Fahrt rund 40 Minuten; doch diesmal würde das kaum zu schaffen sein, erklärte ich. Was ein Problem war: Es stellte sich heraus, dass mein Mitfahrerduo um 20 Uhr eine Verabredung zur Weiterfahrt hatte. Am Kölner Hauptbahnhof. Nach Frankfurt. Und damit nicht genug: Von dort aus sollte es mit einer dritten Mitfahrgelegenheit nach München weitergehen, danach schließlich mit einer vierten zum endgültigen Ziel nach Augsburg.

Ich war halb beeindruckt vom Organisationstalent, halb mitleidig ob der grenzenlosen Zuversicht meiner Passagiere, dass diese Kette von vier eng getakteten Gelegenheitstaxifahrten auch halten würde. Hilfreich, wie ich bin, machte ich einen Vorschlag: Da jeder Fahrer vom Kölner Hauptbahnhof aus in Richtung Frankfurt über den sogenannten Verteilerkreisel an der Bonner Straße würde fahren müssen, bot ich an, das Duo dorthin zu bringen, was allen Beteiligten wertvolle Zeit sparen würde. Mein Fahrgast willigte ein und rief den Zweitfahrer an, um den neuen Treffpunkt vorzuschlagen. Und dann riss schon das zweite Glied der fragilen Kette: Ach, es sei doch so schlechtes Wetter, antwortete Fahrer Nummer Zwei, also da habe er spontan beschlossen, lieber mit dem Zug zu fahren.

Auf dem Weg von Aachen nach Augsburg bei heftigem Schneefall schon in Köln zu stranden, ist kein schönes Schicksal. Doch mein Mitgefühl wich schnell blankem Staunen. Mein Mitfahrer legte das Handy – es war ein älteres Nokia ohne jegliche Internetfunktion – nicht aus der Hand, rief sofort jemand anderen an und begann in einer mir fremden Sprache Instruktionen auszugeben. Es war sein Bruder, der zuhause am Computer umgehend begann, andere mögliche Mitfahrgelegenheiten herauszufinden. Die so aus Mitfahrbörsen herausgefischten Nummern wurden wiederum von meinem Auto aus angerufen – und binnen kürzester Zeit hatte mein Freund sich eine alternative Anschlussverbindung herbeiorganisiert, ganz ohne Internet.

Beeindruckt war ich dabei, wieviele Sprachen der Mann beherrschte. Deutsch sprach er mit mir, Suaheli mit seinem Bruder, Englisch mit einem der anderen Mitfahrer. Portugiesisch und Französisch könne er auch, erklärte er mir, als ich ihn auf seine Sprachfertigkeit ansprach.

Wer gelegentlich in diesem Blog mitliest, könnte den Eindruck gewinnen, dass ich es auf Afrikaner abgesehen habe, so oft tauchen sie in meinen Geschichten auf. Dafür kann ich nichts – es stammen halt vergleichsweise viele meiner Passagiere von diesem Kontinent. Seit ich Mitfahrgelegenheiten anbiete, habe ich mehr Menschen mit dunkler Hautfarbe kennengelernt als in allen vorhergehenden Jahrzehnten meines Lebens zusammen. Und dass der eine oder andere von ihnen die eine oder andere skurrile Anekdote für dieses Blog beigesteuert hat, macht sie in ihrer Gesamtheit nicht unsympathischer, im Gegenteil. Vor dem Mitfahrer dieses Abends empfand ich jedenfalls so etwas wie Hochachtung.

Unterdessen näherten wir uns dem Autobahnkreuz Köln-West. Es war bereits 19.40 Uhr und damit klar: Am Hauptbahnhof, von wo aus auch der Ersatzfahrer losfahren wollte, würden die beiden mit der Straßenbahn auf keinen Fall mehr rechtzeitig ankommen. Und weil es anders gar nicht zu schaffen gewesen wäre, entschied ich mich, einmal eine Ausnahme zu machen und sie doch zum Hauptbahnhof zu fahren.

Zumindest abends, wenn die Straßen freier sind, kommt man auf der Rheinuferstraße halbwegs gut in die City. Sogar bei Schneefall. Machen wir es kurz: Wir schafften es. Um kurz vor 20 Uhr kurvte ich auf den Kreisverkehr am Breslauer Platz hinter dem Kölner Hauptbahnhof ein. Mein Mitfahrer bedankte sich in aller Eile und drückte mir einen Zehner in die Hand, der Mann von der Rückbank machte nochmal sein Daumen-Rauf-Zeichen. Dann entschwanden beide in die Nacht.

Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Ich weiß nicht, ob sie in dieser Nacht Augsburg noch erreicht haben. Aber als ich über die verschneiten Kölner Straßen stadtauswärts nach Hause fuhr, empfand ich ein warmes Gefühl der Zufriedenheit: Falls es nicht geklappt haben sollte, hatte es jedenfalls nicht an mir gelegen.

Das ist eine der vielen schönen Seiten am Mitfahrenlassen. Manchmal besteht der Lohn in mehr als nur einem Stück Papier im Portemonnaie.

Im Venn am Ende

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Wolken stehen am Himmel über dem Venn, als ich hinter Andreas über die schmalen Wege und wippenden Holzstege herbalanciere. Auf meinem Rücken der Fotorucksack, im Anschlag die Sony Nex-6, denn dies ist so etwas wie eine Fotosafari. Andreas ist einer der besten Fotografen, die ich kenne, und er hat netterweise angeboten, mit mir auf Motivpirsch in seine heimatliche Eifel zu gehen. Also habe ich an Ausrüstung eingepackt, was ich an Wechselobjektiven (3) und Stativen (1) im Schrank habe und mich auf den Weg nach Imgenbroich gemacht. Das nahegelegene Steinley-Venn bei Konzen soll als Übungsgelände herhalten – und dass das belgische Militär gelegentlich Ähnliches vorhat, kann uns nicht von unseren Plänen abbringen.

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The spirits are high, sagt man auf Englisch so schön, während wir uns immer weiter von der Zivilisation entfernen. Nur die Sonne tut uns leider nicht den Gefallen, die Szenerie in güldene Strahlen zu tauchen. Der Himmel ist durchgängig bewolkendeckt, das Licht schwammig und indifferent. Macht eigentlich nichts – das Venn ist bei jedem Wetter malerisch, je nach Sonne und Jahreszeit sieht die Landschaft an keinen zwei Tagen gleich aus. Hier müssen sich doch Motive ohne Ende bieten!

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Doch je öfter ich aufs Display der Nex gucke, desto mehr wird mir klar, dass ich nichts sehe. Es liegt nicht an der Kamera: Das 30-mm-Objektiv von Sigma produziert bekanntlich knackscharfe Fotos, das 16-50-mm-Kitobjektiv sollte vom Weitwinkel bis zum Porträt brauchbare Bilder hinkriegen und als Geheimwaffe habe ich noch ein altes analoges 50-mm-Rokkor im Köcher, das mit seinem Adapter umgerechnet etwa 75 Millimeter Kleinbildäquivalent produziert. Dass bei alledem nichts Begeisterndes oder auch nur Befriedigendes rauskommt, liegt am Auge des Menschen, der durchguckt.

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Denn mal abgesehen von einigen wenigen offensichtlichen Eyecatchern wie diesem zerfratzten Balken an einem ausgemusterten Holzsteg springt mir nichts Fotografierenswertes ins Auge. Und während sich Andreas über den moosigen Boden an seelenvoll aus dem Sumpf ragende Schachtelhalme heranrobbt, bleibt mein Kameramonitor leer. Ich sehe einfach nicht, was das Fotografenauge sieht. Als ich später Andreas‘ Ausbeute anschaue, wird mein Gefühl nur noch bestätigt. Klar, er hat Ausrüstung für viele tausend Euro dabei, aber das alleine kann es nicht sein.

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Es wird ein schöner Spaziergang durch eine tolle Landschaft. Aber er lässt einen ratlosen Marc mit nassen Schuhen zurück. Wie trainiert man sich ein fotografisches Auge an? Eins ist offensichtlich, das traditionelle Rezept der Digitalfotografie – „hundertmal leicht unterschiedlich draufhalten, ein Schönes wird am Ende dabeisein“ – funktioniert nicht, wenn man wirklich etwas Spezielles produzieren will. Ich habe das Gefühl, bei Null anfangen zu müssen: Bildbeschnitt, Winkel, Licht und natürlich Brennweite, Blende und ISO-Zahl, das alles will beherrscht werden.

Hier im Venn bin ich nicht nur am Ende dessen angekommen, was die so geliebte Programmautomatik der Kamera hergibt, sondern auch am Ende dessen, was ich bis jetzt fotografisch auf die Beine gestellt habe. Es war ein Tag, der mir die Augen öffnete – und sie sahen, dass sie nichts sahen.

Abendflug

Vaals_200310-dreh

Klinikum_200426

Stadtpark_200552

Europaplatz_200619

Fips+Marc_195942

Schöne Stadt, Aachen. Ich glaube, ich zieh demnächst mal hin.

(Die Bilder zeigen Vaals, Klinikum und Campus Melaten vor einem original Öcher Schauer, Stadtgarten, Quellenhof und Kasino, Europaplatz und Jülicher Straße sowie die beiden Verantwortlichen.)

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Die bildhübsche ASK 16 hat FVA-Mitglied Jackson vor einigen Wochen in der Schweiz gekauft und sie den Motorseglerpiloten des Vereins zur Verfügung gestellt. Beim jährlichen Segelfluglager in Feuers hatte ich vor Ostern ein paarmal Gelegenheit, mit der 40 Jahre jungen Maschine ein paar Runden zu drehen (das neueste Headerbild dieses Blogs mit der Dimona im Abendlicht ist bei so einem Flug entstanden). Mit ihrem einziehbaren Fahrwerk und dem verstellbaren Propeller ist sie ein echtes High-Tech-Schnuckelchen der Siebziger – und mit 200 km/h Spitze auch ganz schön schnell.

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Ihr größter Vorteil ist, dass sie mit wenigen Handgriffen auf- und abgerüstet ist. Jedenfalls auf dem Papier. In der Praxis wuchteten vier Mann heute doch ein paar Minuten länger als erwartet an den Flächen. Für den Einpersonenbetrieb ist das jedenfalls nichts. Selbst zwei Erwachsene dürften ganz gut zu tun haben, den Flieger vor jedem Start zusammenzustecken…

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Doch mit etwas Übung sollte auch das irgendwann flutschen. Das Cockpit jedenfalls ist seit Ostern durch den Höhenmesser in Fuß-Einteilung ein deutliches Stück erwachsener geworden (es hat nicht zur Professionalität meines Funksprechverkehrs beigetragen, beim Anflug auf St. Etienne-Chambéon die englischsprachigen Höhenangaben in Fuß vom Towerlotsen erstmal auf die metrische Skala des alten Höhenmessers übertragen zu müssen).

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Der nächste Schritt soll übrigens ein flammneues Funkgerät sein. Das Alte produzierte beim heutigen Platzrundendrehen so starke Rückkopplungen, dass der „Co“ das Funken übernehmen musste (weshalb ich auf dem Foto oben mal ungewohnt Motorsegler ohne Headset fliege).

Hat Spaß gemacht. Ich glaube, das war nicht die letzte Runde über Aachen.