Eine skurrile Laune der Natur ist Schuld daran, dass Aachen wohl die einzige Stadt auf diesem hübschen blauen Planeten ist, deren Strand zwei Länder und zweieinhalb Autostunden entfernt von ihr liegt.
So muss der einem Strandbad Sonnenbad zugeneigte Öcher einen Tagesausflug einplanen und sich hinters Steuer klemmen. Einmal vollgetankt und dann 233 Kilometer westwärts – an Maasmechelen vorbei, durchs flache Flandern, vor Antwerpen rechts ab. Den weithin sichtbaren Dampfpilz des Kernkraftwerks Doel so schnell wie möglich hinter sich lassen.
Die Fahrt führt vorbei an Orten, die Brommelen, Grobbendonk, Wommelgem und schließlich Krabbendijke heißen. Auf der Halbinsel Walcheren steuern wir auf das malerische Kleinstädtchen Middelburg zu, dann geht es noch ein paarmal im Zickzack rechts-links-rechts, bis die Straße buchstäblich vor dem Deich endet.
Und da wären wir. Domburg. 1500 Einwohner, Verwaltungssitz der Gemeinde Veere – und wer den Namen googelt, wird mit Ferienhäusern und Hotels beworfen, bis er bucht. Man ist halt nicht der einzige, dem’s hier gefällt. Die nächste ernstzunehmende Konkurrenz in Richtung Süden liegt schon in Belgien, heißt Knokke-Heist, ist 20 Mal so groß und unter uns gesagt fürchterlich verbaut.
Wir bleiben also in Domburg, dem einstigen Künstlerdörfchen, das beim Öcher ob der ersten Hälfte seines Namens gleich heimische Gefühle auslöst. Die Dichte an AC-Kennzeichen unter bei den geparkten Wagen spiegelt die Zuneigung wider. Wer das nicht mag, sollte noch ein paar Kilometer weiter nach Norden fahren, über das imposante Oosterschelde-Sturmflutwehr auf die benachbarte Insel Schouwen-Duiveland etwa oder, noch eins weiter, auf Goeree-Overflakkee. Dahinter ist es allerdings vorbei mit der Gemütlichkeit, dort liegt Rotterdam, zweitgrößte Stadt der Niederlande und Europas größter Seehafen.
Hier aber, an diesem abgelegenen Stück Nordseestrand, ist es idyllisch. Der Wechsel von Ebbe und Flut zwingt dem jetzt im Frühjahr noch etwas träge blubbernden touristischen Leben auf den paarhundert Quadratmetern Strand einen gemächlichen Rhythmus auf.
Und der einsame Frachter am Horizont, von Antwerpen aus auf Nordkurs gehend, ist das einzig sichtbare Anzeichen der globalen oder zumindest internationalen Verkehrsströme, die sich außerhalb unserer Wahrnehmung abspielen.
Doch wen interessiert schon der Horizont. Die Buhnen aus doppelreihigen Holzpfählen gliedern die kleine Welt in fußballfeldgroße Segmente, deren Grenzen zumindest direkt in Wassernähe nicht leicht zu überwinden sind. Nur an wenigen Stellen kann man sich als Erwachsener zwischen den Pfählen durchquetschen.
Doch zwischen diesen zahnlückigen Wänden gibt es genug zu sehen. Die Sonne spiegelt sich im Wasser der Priele, die auflaufende Flut treibt Wolken von Schaum vor sich her, die sich am Strand auftürmen. Über all dem kreischen die Möwen.
Woran liegt es, dass diese paar Kubikmeter Sand, diese paar Quadratmeilen Wasser und das völlige Fehlen landschaftlicher Erhebungen solche Glücksgefühle beim Festlandsbewohner auslösen können? Sind es Erinnerungen an die Ursuppe, aus der wir einmal gekrochen sind?
Die Frage bleibt offen. Wenden wir uns landeinwärts. Domburg selbst ist ein schmuckes Dörfchen aus gepflegten Häuschen, Herbergen und Hotels – der Tourismus hat hier jeden Meter geprägt.
Die Dohlen oben auf dem Kirchturm stört es nicht. Der Ziffernkranz der Uhr bietet ihnen einen bequemen Sitzplatz mit perfekter Aussicht auf das Gewusel auf dem Pflaster unter ihnen.
Andere können nicht so hoch hinaus – und fühlen sich zwischen all den akkurat gestutzen Hecken, blühenden Bäumen und gewienerten Mittelklasseautos in den Wohnstraßen mindestens genauso wohl.
Vielleicht ist der Reiz des Aachener Strandes gerade seine Überschaubarkeit. Rund um den alten Wasserturm mit seinem wunderlichen Dach, das Wahrzeichen der Siedlung, spielt sich das Leben in zwei Hälften ab: Es gibt nur das Vor dem Deich und das Dahinter. Nur wer auf der Krone steht, sieht das Ganze. Es ist ein kleines Ganzes.
Ein greifbares, begehbares, übersichtliches Ganzes. Eines, das keine dunklen Ecken und bösen Überraschungen bietet.
Ein Strand zum Gernhaben. Vielleicht sogar einer zum Verlieben. Auf jeden Fall einer, den man als Öcher, wenn man sich abends ins Auto setzt und von Domburg nach Domstadt zurückfährt, im Herzen trägt.
Danke! Es ist, als wäre ich dabei gewesen. Und ja, ich verstehe diese Art von Glück besser als jede andere…