Skandiblog 12: Ausblicke und Rückblicke

Am nächsten Morgen scheint freundliche Sonne direkt in mein Zimmer. Über Rjukan ist der Himmel fast wolkenlos blau – zum ersten Mal, seit ich Aachen verlassen habe.

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Beste Voraussetzungen, um diesen Ort zu besuchen, den jeder Norweger kennt. Denn einmal, vor 65 Jahren, wurde in Rjukan Weltgeschichte geschrieben.

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Der heutige Ort verdankt sein Entstehen dem 105 Meter hohen Rjukanfossen-Wasserfall, der schon im 18. und 19. Jahrhundert als Naturwunder Touristen ins abgelegene Vestfjord-Tal lockte. Als 1909 die Rjukanbahn gebaut wurde, wozu eine Eisenbahnfährverbindung über den 45 Kilometer langen Tinnsjø-See eingerichtet werden musste, begann die Industrialisierung des Tals. Mit dem schönen Wasserfall war es vorbei: Er wurde eingerohrt und trieb ab 1911 die Turbinen des Wasserkraftwerk Vemork an, des damals größten der Welt.

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Dort produzierte der Industriekonzern Norsk Hydro nicht nur Strom, sondern in den Dreißiger Jahren auch Deuteriumoxid – sogenanntes Schweres Wasser, ein Bestandteil der nuklearen Kettenreaktion. Wer Schweres Wasser besaß, konnte eine Atombombe bauen. Nachdem 1940 Nazideutschland Norwegen überfallen und besetzt hatte, nutzten deutsche Wissenschaftler Vemork für ihre Kernforschung.

Da die Alliierten nicht zulassen wollten, dass Hitler mit einer Atombome London oder New York auslöschte, versuchten sie 1943 in einer waghalsigen Geheimaktion, die Fabrik zu zerstören. Norwegische Widerstandskämpfer wurden von England aus im Winter auf der Hardangervidda-Hochebene nördlich von Rjukan abgesetzt. Monatelang hielten sie sich dort versteckt, bis sie im Februar über die steile Schlucht ins Kraftwerk eindrangen und wesentliche Teile des Werks in die Luft sprengten.

Nachdem die Deutschen die Anlage repariert hatten, wurde sie von amerikanischen Flugzeugen bombardiert. Im Frühjahr 1944 gaben die Deutschen auf und versuchten, das bereits hergestellte Schwere Wasser in Güterwaggons aus dem Land zu schaffen. Die Widerstandskämpfer wurden erneut aktiv. Als die Eisenbahnfähre Hydro mit den Waggons in den Tinnsjø-See ausgelaufen war, wurde sie durch Sprengladungen versenkt. Mit Hitlers Atombombe war es vorbei.

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Die Fähre Hydro am Kai von Mael. (Foto: Anders Beer Wilse/Norwegian Museum of Cultural HistoryWikipedia)

Nazideutschland kapitulierte im Mai 1945. Die einzigen jemals im Krieg eingesetzten Atombomben fielen drei Monate später auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Hätte sich der Krieg in Europa noch ein wenig länger hingezogen, wäre heute vielleicht das Ruhrgebiet eine radioaktive Wüste.

Die Fässer mit dem Schweren Wasser liegen noch heute auf dem Grund des 430 Meter tiefen Sees, des dritttiefsten in Norwegen. Während des Krieges versuchte der deutsche Wissenschaftler Werner Heisenberg, eine nukleare Kettenreaktion zu starten. Das Experiment scheiterte – wie man heute weiß, fehlte ungefähr soviel Schweres Wasser, wie mit der Fähre unterging. Die deutsche Forschung kam nie auch nur in die Nähe einer funktionierenen Bombe.

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Die Kämpfer von damals gelten in Norwegen als Nationalhelden. Ihre Sabotageaktion war der erfolgreichste koordinierte Schlag einer Widerstandsbewegung in den von Nazideutschland besetzten Ländern überhaupt. Mit dem Spielfilm „The Heroes of Telemark“ mit Kirk Douglas in der Hauptrolle setzte Hollywood ihnen ein Denkmal. Ein Denkmal aus Stein steht vor dem Wasserwerk.

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Fast sechzig Jahre nach diesen Ereignissen liegt das Schwesterschiff der versenkten Hydro, die Dampffähre Ammonia, am Anleger von Mæl, wenige Kilometer von Rjukon entfernt.

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Das Gelände ist unbewacht, man kann sich in Ruhe umgucken.

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Die historischen Güterwagen der 2000 stillgelegten Rjukanbahn stehen noch am Kai.

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Eitle Touristen nutzen das leere Gelände zu fantasielosen Fotos mit Selbstauslöser. Kämmen Sie sich mal die Haare, junger Mann. Außerdem hatten wir das Motiv schon in Ystad.

Genug Geschichte. Schauen wir uns Rjukan doch mal von oben an. Dafür gibt es die Krossobanen, Nordeuropas erste Seilbahn. Sie war ein Geschenk der Norsk Hydro an die Einwohner des Tals, damit sie auch im Winter Sonnenlicht sehen konnten.

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Denn das Leben in der Stadt dürfte in der dunklen Jahreszeit kaum zu ertragen sein: Auch am Tag verirrt sich kein Sonnenstrahl in die Schlucht, dazu produziert der Fluss eine Art gischtigen Dunst, der wie Nebel über den Häusern liegt. Schneemassen türmen sich auf, weil kaum Platz ist, sie aus dem Weg zu räumen. „Und alles ist schmutzig vom Streumaterial“, erklärt mir eine Anwohnerin.

Fast einen halben Kilometer hoch fährt die Seilbahn bis ans obere Ende der Schlucht. Und siehe da, die Deutschen haben in der Gegend nicht nur schlimme Erinnerungen hinterlassen: Wie eine große Blechtafel an der Bodenstation beweist, wurde die Anlage 1928 von der Firma Adolf Bleichert aus Leipzig gebaut. Die rote Kabine heißt übrigens Tyttebæret, Preißelbeere, ihre blaue Schwester ist natürlich die Blåbæret – die Übersetzung spare ich mir.

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Der Ausblick von der Besucherplattform ist grandios. Der Berg im Hintergrund ist der 1883 Meter hohe Gaustatoppen. Angeblich ist er der schönste Gipfel des Landes (auch wenn ich den Verdacht habe, dass die stolzen Nordländer hier das von jedem halbwegs geeigneten Hügel behaupten). Dieser Berg war es, an dem ich gestern Abend, ohne es zu wissen, vorbeigefahren bin.

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50 Kilometer südöstlich von Rjukan – also eine knappe Fahrstunde entfernt – liegt in Heddal Norwegens größte Stabkirche.

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Das zwar nur etwa 20 Meter lange, dafür aber 26 Meter hohe hölzerne Bauwerk wurde 1240 errichtet. Der älteste Balken hat sogar noch deutlich mehr hinter sich: Er stammt etwa aus dem Jahr 900.

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Das Gebäude wird immer noch als Kirche genutzt. Man kann hier im Sommer auch vor den Altar treten, erklärt mir eine Kirchenführerin. Es gibt sicher nur wenig so romantische Orte zum Heiraten wie eine alte Wikingerkirche.

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Ich ärgere mich, nicht meine große Kamera mit dem stärkeren Blitzlicht mitgenommen zu haben. Die kleine Pocket-Pentax ist im schummrigen Licht mit dem hohen Dachgestühl doch etwas überfordert.

Von Heddal aus fahre ich ein zweites Mal über Sauland und die kleine Nebenstraße nach Norden in Richtung Rjukan. Diesmal scheint am Gaustatoppen die Sonne und es weht kaum ein Wind – was für ein Unterschied zu gestern! Jetzt finde ich auch die Abzweigung, von der aus eine Stichstraße nach Kvitavatn führt.

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Gegen 21 Uhr stelle ich den Motor der Freewind ab. Die neue Jugendherberge ist einzigartig: Neben einem modernen Hauptgebäude ist eine Anzahl wunderhübscher Holzhütten im traditionellen norwegischen Stil über das Gelände verstreut. Auf ihren Dächern wächst zum Teil sogar Gras.

Wie man mir am Telefon angekündigt hat, ist niemand mehr da. Doch an der Tür des Haupthauses hängt ein Zettel: „Willkommen Marc H. Der Schlüssel ist in der Tür zu Hütte Nr. 51“.

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Hütte 51 ist ein winziges Einpersonenhäuschen mit kleiner Veranda und niedrigem, bewachsenen Dach. Es hat nur ein Fenster, aber das zeigt genau in die richtige Richtung: Freie Sicht auf den Gaustatoppen!

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Ich bin der einzige Gast in der ganzen Anlage. In der voll ausgestatteten Küche mache ich mir das mitgebrachte Abendbrot zurecht. Diesmal hatte in Sauland noch der Spar-Supermarkt geöffnet, darum gibt es jetzt Brötchen mit Käse, Krabbensalat, Schokoladenkekse und eine Flasche „Irn Bru“ (Eisen-Bräu), ein giftig-orangefarbenes Gesöff aus Schottland, das nach Kaugummi schmeckt und mich an meine Zeit in Glasgow erinnert. Gesund ist das alles natürlich nicht, aber wir sind ja im Urlaub. Frischobst und -gemüse sind hierzulande eh kaum bezahlbar, überhaupt liegt das ganze Preisniveau etwa ein Viertel bis ein Drittel über dem deutschen.

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Es wird Abend. Ein merkwürdiges Gefühl, alleine hier oben zu sein. In Kvitavatn entsteht gerade ein Wintersportgebiet mit vielen Hotels und Skihütten. In den umliegenden Berghängen sind Schneisen für Loipen und Lifte in die Wälder geschlagen. Jetzt, im Sommer, ist hier natürlich noch nichts los.

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Nachts werde ich wach. Es ist kurz vor drei. Draußen wird es schon wieder hell. Das Geräusch kenne ich doch? Es ist ein Kuckuck.

Wie schön das klingt. Wann habe ich so etwas in Deutschland zuletzt gehört?

Eine Antwort auf „Skandiblog 12: Ausblicke und Rückblicke“

  1. „Hätte sich der Krieg in Europa noch ein wenig länger hingezogen, wäre heute vielleicht das Ruhrgebiet eine radioaktive Wüste.“

    Das stimmt so nicht ganz. In Hiroshima und Nagasaki leben heute ja auch wieder Millionen von Menschen. Hat mich selbst überrascht, als ich da war. Angeblich keine nennenswerte Strahlenbelastung. Die schweren Schäden traten auf bei denen, die entweder direkt von der Explosion getroffen wurden oder radioaktiv strahlende Elemente in den Körper aufgenommen haben.

    Ansonsten: Schöne Bilder! Ich werde schon ganz neidisch…

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