„Am Hauptbahnhof“ lautet eine häufige Antwort, wenn ich meine abendlichen Mitfahrer frage, wo in der Domstadt Köln ich sie absetzen darf. Ich bemühe mich dann stets, möglichst zartfühlend zu erklären, warum ich als Südrandlagenbewohner wenig Neigung verspüre, im Abendverkehr nochmal eben schnell mitten ins Herz der Millionenstadt zu fahren. Für die Nichtkölner unter euch aber gerne hier die Erklärung in der Langversion: Köln ist groß. Sehr groß sogar. Selbst von der günstigsten Autobahnabfahrt aus dauert es je nach Verkehrsdichte mindestens 20 bis 40 Minuten zum Bahnhof – und zwar pro Fahrt. Ich käme also im günstigsten Fall 40 Minuten später nach Hause, im ungünstigsten fast anderthalb Stunden. Selbst für einen Extra-Euro hängt da die Money-Life-Balance in einer gewissen Schieflage. Also werfe ich 95 Prozent meiner Mitfahrer an der Straßenbahnhaltestelle Sülzgürtel ab, von wo aus die Linie 18 sie in einer knappen Viertelstunde ohnehin schneller zum Hauptbahnhof bringen kann als ich mit dem Auto.
Es gibt aber auch Ausnahmen, und von einer möchte ich jetzt erzählen. Im letzten Winter war es, und zwar im letzten richtigen Winter – also nicht im Dauerfrühling 2013/14, sondern in der Zwischeneiszeit 2012/13, als ein nicht enden wollendes halbes Jahr lang sich eine wochenlange Schnee- und Kältewelle mit der nächsten abwechselte. Die A4 war ein 60 Kilometer langes, permagefrorenes Eis- und Matschband und ich so froh wie noch nie im Leben, mir die besten Winterreifen gekauft zu haben, die es für Geld zu kaufen gab. Zwei Glatteisunfälle ereigneten sich in ebendiesem Winter auf ebendieser Autobahn just vor meinem Kühlergrill, die Zahl der von der Straße gerutschten Autos weiß ich nicht mehr.
In diesem Winter also, an einem rasch dunkler werdenden Nachmittag – es fielen schon wieder dicke Flocken auf die in den vergangenen Wochen immer weiter verdickte Schneedecke – buchte ein Mitfahrer. Zwei Plätze, für die Fahrt ab 19 Uhr von Aachen nach Köln.
Schon zum Treffen am Bahnhof Rothe Erde erschien ich etliche Minuten zu spät, weil es so lange dauerte, auf dem Firmenparkplatz die Autoscheiben vom Eis freizukratzen und anschließend über die glatten und zugleich verstopften Straßen hinzukommen.
Am Bahnhof warteten ein Afrikaner von etwa Mitte Vierzig und ein Mitteleuropäer, der noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatte und kein Wort sagte. „Er ist taubstumm“, erklärte mir der Afrikaner, während er vorne Platz nahm. Ich gestikulierte ein „bitte Anschnallen“ in Richtung Rückbank, was der Mann mit einem Daumen-Rauf-Zeichen quittierte und der Bitte folgte. So machten wir uns vorsichtig auf den Weg – im Schleichtempo.
Auch auf der Autobahn ging die Sache kaum schneller vonstatten. Der Schneefall wurde immer heftiger, mittlerweile war es auch stockdunkel geworden. Fahren war fast nur auf der rechten Spur möglich, wo sich eine langsame Kolonne mühsam ostwärts quälte. Wann wir wohl da sein würden, erkundigte sich der Mann auf dem Beifahrersitz besorgt. Normalerweise brauche ich für die Fahrt rund 40 Minuten; doch diesmal würde das kaum zu schaffen sein, erklärte ich. Was ein Problem war: Es stellte sich heraus, dass mein Mitfahrerduo um 20 Uhr eine Verabredung zur Weiterfahrt hatte. Am Kölner Hauptbahnhof. Nach Frankfurt. Und damit nicht genug: Von dort aus sollte es mit einer dritten Mitfahrgelegenheit nach München weitergehen, danach schließlich mit einer vierten zum endgültigen Ziel nach Augsburg.
Ich war halb beeindruckt vom Organisationstalent, halb mitleidig ob der grenzenlosen Zuversicht meiner Passagiere, dass diese Kette von vier eng getakteten Gelegenheitstaxifahrten auch halten würde. Hilfreich, wie ich bin, machte ich einen Vorschlag: Da jeder Fahrer vom Kölner Hauptbahnhof aus in Richtung Frankfurt über den sogenannten Verteilerkreisel an der Bonner Straße würde fahren müssen, bot ich an, das Duo dorthin zu bringen, was allen Beteiligten wertvolle Zeit sparen würde. Mein Fahrgast willigte ein und rief den Zweitfahrer an, um den neuen Treffpunkt vorzuschlagen. Und dann riss schon das zweite Glied der fragilen Kette: Ach, es sei doch so schlechtes Wetter, antwortete Fahrer Nummer Zwei, also da habe er spontan beschlossen, lieber mit dem Zug zu fahren.
Auf dem Weg von Aachen nach Augsburg bei heftigem Schneefall schon in Köln zu stranden, ist kein schönes Schicksal. Doch mein Mitgefühl wich schnell blankem Staunen. Mein Mitfahrer legte das Handy – es war ein älteres Nokia ohne jegliche Internetfunktion – nicht aus der Hand, rief sofort jemand anderen an und begann in einer mir fremden Sprache Instruktionen auszugeben. Es war sein Bruder, der zuhause am Computer umgehend begann, andere mögliche Mitfahrgelegenheiten herauszufinden. Die so aus Mitfahrbörsen herausgefischten Nummern wurden wiederum von meinem Auto aus angerufen – und binnen kürzester Zeit hatte mein Freund sich eine alternative Anschlussverbindung herbeiorganisiert, ganz ohne Internet.
Beeindruckt war ich dabei, wieviele Sprachen der Mann beherrschte. Deutsch sprach er mit mir, Suaheli mit seinem Bruder, Englisch mit einem der anderen Mitfahrer. Portugiesisch und Französisch könne er auch, erklärte er mir, als ich ihn auf seine Sprachfertigkeit ansprach.
Wer gelegentlich in diesem Blog mitliest, könnte den Eindruck gewinnen, dass ich es auf Afrikaner abgesehen habe, so oft tauchen sie in meinen Geschichten auf. Dafür kann ich nichts – es stammen halt vergleichsweise viele meiner Passagiere von diesem Kontinent. Seit ich Mitfahrgelegenheiten anbiete, habe ich mehr Menschen mit dunkler Hautfarbe kennengelernt als in allen vorhergehenden Jahrzehnten meines Lebens zusammen. Und dass der eine oder andere von ihnen die eine oder andere skurrile Anekdote für dieses Blog beigesteuert hat, macht sie in ihrer Gesamtheit nicht unsympathischer, im Gegenteil. Vor dem Mitfahrer dieses Abends empfand ich jedenfalls so etwas wie Hochachtung.
Unterdessen näherten wir uns dem Autobahnkreuz Köln-West. Es war bereits 19.40 Uhr und damit klar: Am Hauptbahnhof, von wo aus auch der Ersatzfahrer losfahren wollte, würden die beiden mit der Straßenbahn auf keinen Fall mehr rechtzeitig ankommen. Und weil es anders gar nicht zu schaffen gewesen wäre, entschied ich mich, einmal eine Ausnahme zu machen und sie doch zum Hauptbahnhof zu fahren.
Zumindest abends, wenn die Straßen freier sind, kommt man auf der Rheinuferstraße halbwegs gut in die City. Sogar bei Schneefall. Machen wir es kurz: Wir schafften es. Um kurz vor 20 Uhr kurvte ich auf den Kreisverkehr am Breslauer Platz hinter dem Kölner Hauptbahnhof ein. Mein Mitfahrer bedankte sich in aller Eile und drückte mir einen Zehner in die Hand, der Mann von der Rückbank machte nochmal sein Daumen-Rauf-Zeichen. Dann entschwanden beide in die Nacht.
Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Ich weiß nicht, ob sie in dieser Nacht Augsburg noch erreicht haben. Aber als ich über die verschneiten Kölner Straßen stadtauswärts nach Hause fuhr, empfand ich ein warmes Gefühl der Zufriedenheit: Falls es nicht geklappt haben sollte, hatte es jedenfalls nicht an mir gelegen.
Das ist eine der vielen schönen Seiten am Mitfahrenlassen. Manchmal besteht der Lohn in mehr als nur einem Stück Papier im Portemonnaie.