Die Führung begann um 10 Uhr am Dom und das war in zehn Minuten. Entsprechend flotten Schrittes marschierten Eva und ich die Adalbertstraße hoch. Schließlich mussten wir auch noch die Karten kaufen.
Wir waren nur noch ein paar Schritte vom Eingang des Drogeriemarktes entfernt, als der junge Mann im Kapuzenpulli aus der Tür kam, die Hände voll mit kleinen Artikeln an den Bauch gepresst. Nein, er kam nicht. Er rannte, er spurtete, kaum dass er auf der Straße war, und im selben Moment schrillte auch schon der Alarm los.
Alles Mögliche schießt dem Zufallszeugen in solchen Momenten durch den Kopf. Was passiert da? Der klaut da gerade was! Du musst ihn aufhalten! Noch bevor mein Hirn zu komplizierteren Situationsanalysen vordringen konnte, etwa, ob es mit irgendwelchen Nachteilen verbunden sein könne, sich einem flüchtenden Straftäter in den Weg zu stellen, stürmte ich auf den hageren Jüngling zu, laut etwas von „bleib stehen“ brüllend. Erschreckt wich er aus, ich griff nach ihm, verfehlte ihn, rannte ihm nach, er stürzte aufs Pflaster, Rasierklingenpackungen flogen in alle Richtungen, er rappelte sich auf und raste mit Höchstgeschwindigkeit die Straße hinunter in Richtung Kaiserplatz.
Zurück blieben vier Viererpacks Gillette Fusion Pro Glide zu immerhin je 18,99 Euro. Vor den Augen mehrerer stehengebliebener Passanten sammelte ich die Packungen auf, trug sie in den Laden zurück und drückte sie, noch reichlich außer Atem, einer etwas verdutzten Kassendame in die Hände. „Sind Sie geschädigt worden?“, fragte eine ältere Kundin. „Nein, ich bin ihm nur nachgelaufen“, erklärte der Retter der Gilettes mit bescheidenem Stolz und leichtem Keuchen.
Wir haben es dann nicht mehr rechtzeitig zum Dom geschafft. Aber das schöne Gefühl, einmal im Leben nicht wie ein Depp mit offenem Mund von den Ereignissen überrollt worden zu sein, war die Stunde Wartezeit bis zur nächsten Führung schon wert.
Der Blumenladen am Fischmarkt heißt Blütezeit, und hätten wir nicht unsererseits die unverhoffte Zeit genießen können, wären er und seine üppig blühenden Auslagen mir wohl gar nicht aufgefallen. Man sieht auch Altvertrautes mit anderen Augen, wenn man plötzlich gezwungen ist, es wahrzunehmen.
Wie auch diese possierlichen Bommelblumen im Elisengarten. Überhaupt, der Elisengarten: An so einem sonnigen Tag ist er voller gut gelaunter Leute, die es sich auf den Stufen gemütlich gemacht haben, mit ihren Kindern auf dem Rasen Ball spielen oder im archäologischen Pavillon neugierige Blicke auf die freigelegten Mauerreste aus zig Jahrhunderten werfen.
Aachen ist voller Seele an solchen Tagen. Ich empfinde es als ganz großes, intensives Glück, an genau dem Ort der Welt leben und arbeiten zu dürfen, an dem ich es möchte. Und ich möchte nirgendwo anders sein als genau hier, in dieser uralten Stadt, die irgendwie das Wunder vollbracht hat, sich ihr kleines großes Herz bis heute zu bewahren, allen Stadtbränden, Bombennächten, Endsiegkämpfen und Modernisierungwellen zum Trotz.
Und dabei bis heute immer wieder das Öcher Augenzwinkern durchblitzen zu lassen. Ob im Doppeladler über dem Grashaus, dem neu eröffneten „europäischen Klassenzimmer„, in dem Schüler an Europa-Workshops teilnehmen…
…dem Hinweisschild auf die Warteschlange an der Wursttheke eines Imbisses…
…oder in der – doch garantiert studentischen! – Reaktion auf ein eigentlich gar nicht lustiges Statement.
Doch dann beginnt unsere Führung – das heißt, eigentlich sind es zwei: eine Stadt- und eine Domführung. Die ebenso fundierten wie gelegentlich verschmitzten Erklärungen unseres Ortssachkundigen – er heißt Ortwin Vahle und sei hiermit allen Wissbegierigen ans führerlose Herz gelegt – bieten selbst für Nicht-mehr-ganz-Neu-Öcher noch reichlich Neues. So hatte ich zum Beispiel bis zu diesem Tag geschafft, nicht mitzubekommen, dass der schöne Katschhof so heißt, weil dort die Menschen gekatscht, sprich: geköpft, wurden.
Ja, man sieht seine eigene Stadt mit anderen Augen, wenn man mal veranlasst wird, etwas genauer hinzuschauen. Und den Dom? Wie erlebt man den Dom, wenn man professionell geführt und begleitet wird?
Man sieht andere Details. Man bekommt ein anderes Auge für die Mosaiken, die Muster, die Gewölbe und Gepränge. (Einzelheiten und Hintergründe möge der interessierte Leser doch bitte an geeigneterem Orte nachschlagen, vielen Dank für Ihr Interesse.)
Und am Ende gruselt man sich doch leicht vor dem menschlichen Schädel im Epitaph von Johann und Jakob Brecht in der Seitenwand der Nikolauskapelle.
Ein paar Schritte vom Dom entfernt, kauert sich in eine Nische am Granusturm des mächtigen Rathauses der uralte hölzerne Postwagen, eine skurrile Gaststätte mit winzigen Räumchen, Treppchen und Bänkchen. Wo könnte man den Rundgang durch Aachen besser ausklingen lassen als hier, die Köpfe voller Bilder und die Füße müde vom Gang durch die winkligen Gassen – und dem morgendlichen Sprint hinter dem Langfinger her?
Und siehe da, noch einmal haben wir Glück und können Vertrautes mit neuem Blick genießen. Auf dem Markt findet eine Oldtimerrallye statt. Wo sonst Gebackenes, Geerntetes und Geschlachtetes über die Theke geht, rangiert, manövriert und paradiert jetzt Poliertes und Verchromtes direkt vor unseren Augen.
Ach, Aachen. So alt und immer wieder neu. Fortsetzung folgt. Schon morgen.
„Aachen ist voller Seele an solchen Tagen. Ich empfinde es als ganz großes, intensives Glück, an genau dem Ort der Welt leben und arbeiten zu dürfen, an dem ich es möchte. Und ich möchte nirgendwo anders sein als genau hier, in dieser uralten Stadt, die irgendwie das Wunder vollbracht hat, sich ihr kleines großes Herz bis heute zu bewahren, allen Stadtbränden, Bombennächten, Endsiegkämpfen und Modernisierungwellen zum Trotz.“ – Eine Heckert’sche Textperle, die ich Wort für Wort unterschreiben möchte!
vielen Dank für die bezaubernden Worte über und ent-rückten Bilder unserer wunderschönen Stadt.