Letzter Gang

Die Klingel neben der Haustür ist im Dunkeln kaum zu erkennen. Das Licht der Straßenlampe reicht nicht ganz bis hier und durch die Glasscheiben in der Tür fällt auch kein heller Schein in den Vorgarten. Das ganze Haus ist dunkel, die Fenster schwarz. Ich drücke auf den Knopf über dem Schild, auf dem mein Familienname steht. Diiing-Dong. Ein vertrauter Ton. Nur um ihn zu hören, habe ich die Klingel gedrückt, öffnen wird mir niemand. Das Haus steht leer, seit der Anruf kam, vor fast elf Monaten. Der Anruf, der zu einem Abschied führte, eine Woche später. Einem der vielen Abschiede in den vergangenen zwölf Monaten.

Ich schließe die Tür auf. Der Schließzylinder lässt, eingebettet in den Resonanzkörper des Türrahmens aus Holz, ein „Klack“ hören, das ich seit meiner Kindheit kenne. Ich trete ein. Der vertraute Geruch beim Betreten des einstigen Zuhauses ist nicht mehr wahrnehmbar. Was mag ihn ausgemacht haben? Die Lederjacken und Schuhe in der Diele, die Möbel und Teppiche im Wohnzimmer, die Lebensmittel und Gewürze in der Küche? Nichts davon ist mehr da. Ein Druck auf den Lichtschalter mit den abgerundeten Kanten, in diesem metallischen Bronzebraun. Wie unglaublich modern sie mir vorkamen, als mein Vater sie überall in die Wände setzte und mit ihnen die alten weißen Drehknöpfe ersetzte. Damals, vor vierzig Jahren.

Die Küche. Der Stolz meiner Mutter, weiße Einbauschränke und eine auch heute noch wunderschöne, grau-rote Granitplatte. Ihre Kommandozentrale, klein, aber voll ausgestattet, alles in Griffweite. Hier duftete es aus dem Backofen, köchelte es auf dem Herd, darüber brummte die Abzugshaube. Oft gab es rheinischen Sauerbraten, wenn ich kam, zu Weihnachten, Ostern oder einem Geburtstag, bis heute ist dieses Gericht für mich die Krönung deutscher Kochkunst. Sie hatte ihn aus ihrer Heimat im Bergischen mit nach Norddeutschland gebracht. Das Rezept nahm sie mit ins Grab.

Kein Duft, kein Laut. Ich öffne die Tür des Hängeschranks, in dem die Gewürze und Zutaten warteten, in ihren säuberlich beschrifteten Gläsern und Plastikbehältern, Salz, Paprika, Mondamin. Leer. Wie schäbig und abgenutzt eine Küche nach vier Jahrzehnten Einsatz aussieht, wenn kein Leben mehr darin ist.

Die Treppe hinauf, zum ersten Stock, und gleich noch eine weiter, hinauf ins Dachgeschoss. Hier war einmal das Elternschlafzimmer. Dunkle Holzpaneele bedecken die Wände, in den Achtzigern war das schick, mein Vater hat das ganze Haus mit eigenen Händen ausgebaut. Sogar eine Essnische war hier oben anfangs untergebracht, ebenso einmal die Küche. Aus den roten Plüschsitzbänken eines Eisenbahnwaggons hatte er eine Sitzecke gebaut. Ein letzter Blick in die Runde, ans Dachgeschoss habe ich nicht viele Erinnerungen.

Ganz anders an mein altes Zimmer darunter. Hier sind die Holzpaneele heller. Auf der Innenseite der Zimmertür ist eine alte dreidimensionale Deutschlandkarte auftapeziert. Die obere Kante davon hat der Schnabel eines Wellensittichs abgeknabbert. Erinnerungen. Mit Legosteinen und meiner Fleischmann-Eisenbahn habe ich hier gespielt, später Modellbauflugzeuge bemalt. Auf dem Bettkasten stand das Aquarium mit der Wasserschildkröte. Mein Reich, bis ich zwanzig war.

Draußen ist es nachtdunkel, sonst hätte ich noch einmal den Blick von meinem Fenster über die Nachbargärten gehabt. Ein Gang durch die anderen Räume. Im Badezimmer schimmert immer noch der elektrische Handtuchwärmer aus Edelstahl an der Wand, den mein Vater von einer Geschäftsreise aus Dänemark mitgebracht hatte – lange, bevor hierzulande Heizkörper mit Rohrrippen als Handtuchtrockner in die Badezimmer einzogen.

Wieder hinunter ins Erdgeschoss, noch einmal kurz in den Keller, über die steile Holztreppe. Die Werkstatt meines Vaters, ausgeräumt. Daneben die alte Dunkelkammer, mit weißem Holz ausgekleidet. Sein Reich. Es duftete nach Entwickler und Fixierer. Hier haben wir in Plastikwannen die Papierabzüge von Fotos gebadet, die ich vorher mit meiner Praktica vom Oldenburger Bahnhof gemacht hatte. Die Kamera hatte er mir geschenkt, ich habe sie noch heute. Es sollte aber noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis das Feuer für die Fotografie in mir wirklich aufloderte. Zu spät für gemeinsame Fototouren. Nun warten Vergrößer, Wannen und Entwicklerdosen in meiner Aachener Wohnung auf Wiederbelebung.

Der Metallhebel, der die Küchentür zum Garten hin ein paar Zentimeter anhebt, damit sie sich öffnen lässt, braucht wie immer etwas Kraft. Mit den Jahren hat er einen dunklen Viertelkreis in den weißen Lack der Holzverkleidung gezirkelt. Die Tür schwingt auf, ein letztes Mal. Ich trete auf das kleine Treppenpodest. Der dunkle Garten ist mehr zu ahnen als zu sehen. Leichter Wind streift mir durchs Gesicht. Es ist warm, zu warm für Dezember. Der Griff hebelt die Küchentür wieder herunter.

Die schwere gläserne Lampe an der Wohnzimmerdecke hängt noch da, wo einmal der Esstisch stand. Der einst teure, ovale Esstisch aus Eichenholz, auf den die Eltern so stolz waren. Den ich jetzt, als er den Raum verlassen sollte, erst schrecklich altmodisch fand. Ihn dann aber, irgendwann im Sommer, nach langem Zögern doch in mein Leben ließ und mit nach Aachen nahm. So wie der Tisch ist auch der Rest der Einrichtung fort. Der beigefarbene Teppich, der das Zimmer über die gesamte Tiefe des Hauses bedeckt, bildet eine durchgehende helle Fläche. Geliebt und gehasst hat meine Mutter ihn, denn so elegant er aussah, so magisch zog er Dreck und Flecke aller Art an. Auch seine Zeit ist zu Ende, er ist längst schmutzig geworden, wellt sich und ist an einer Stelle aufgerissen, als die Möbel herausgeschoben wurden. Die nächsten Bewohner werden andere Pläne haben, wie dieser Raum aussehen soll.

Vor einer Stunde saßen wir zusammen beim Notar. Eine Verlesung des Kaufvertrages, ein Händeschütteln, ein Durchatmen. Und jetzt: der letzte Besuch. Kurz vor Jahresende noch einmal ein Abschied. Von dem, was mehr als fünfzig Jahre lang das Zuhause war, das eigentliche Zuhause, im Herzen. Das, von dem man auch als in die weite Welt Hinausgezogener und ein eigenes Leben Lebender doch immer wusste: Zur Not kannst du dahin zurück. Dein altes Kinderzimmer ist noch da. Der letzte Rückzugsort, die Basis. Vorbei. Nun, da niemand mehr darin wohnt, ist auch das Haus nicht mehr das, was es so lange war: ein Zuhause. Der vertraute Ort ist gleichzeitig noch da und verschwunden.

Doch auch wenn die Geschichte der Menschen vorbei ist, die hier mehr als ein halbes Jahrhundert lang gelebt haben, die des Hauses ist es nicht. Es wartet. Auf neue Menschen, die es mit ihrem eigenen Leben füllen. Die Holzverkleidungen abreißen werden, Wände aufmeißeln, neue Leitungen installieren, neue Teppiche legen, neue Gardinen aufhängen. Das nächste Kapitel steht bevor. Das Leben geht weiter. Ein letzter Druck auf den braunen Schalter im Flur. Das Licht erlischt. Die Haustür fällt ins Schloss. Der Schlüssel dreht sich. Klack.

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