Einerseits ist da Brügge. Venedig des Nordens, Unesco-Weltkulturerbe und berühmt als Perle Flanderns, spätestens seit Martin McDonaghs Kinokracher „Brügge sehen… und sterben?“ (trotz des fürchterlich übersetzten Titels).
Andererseits gibt es Gent. Doppelt so groß, doch von den Touri-Horden gefühltermaßen nur halb so heimgesucht. Und schnelle 200 Kilometer nah an Aachen, 50 weniger als Brügge. „Brügge ist ein Museum, aber Gent lebt“, schwärmt die Betreiberin unseres Bed-and-Breakfasts. Da sie als Genterin möglicherweise nicht ganz unvoreingenommen ist, bedarf diese These einer Überprüfung. Auf ins Leben der drittgrößten Stadt Belgiens also – wenn’s denn existiert.
Erster Eindruck: Auch wenn die Unesco der ostflandrischen Provinzhauptstadt bislang die kalte Schulter zeigt, das Panorama der Altstadt kann mit dem Brügges durchaus konkurrieren. (Die Bilder lassen sich großklicken.)
Graslei heißt die Uferpromenade links im Bild. Wie die gut gemachte und sogar deutschsprachige Besucher-Webseite Visitgent.be behauptet, würden neun von zehn Gentern bestätigen, dass ihre Stadt dort am schönsten sei. Umfragen sind etwas Wunderbares: Schließt man sich der Mehrheit an, fühlt man sich sofort in warmer Masse wunderbar geborgen.
Das fällt allerdings auch nicht schwer. Wer beim Anblick der alten Giebelhäuser nicht in Schwärmen gerät, wird wahrscheinlich auf einer Bahre an ihnen vorbeigetragen und hat eine Decke über den Kopf gezogen, wie Douglas Adams einmal schrieb (allerdings nicht über Gent).
Die Zeit der stolzen Dreimaster ist hier m Zusammenfluss von Lieve und Leie zwar schon längere Zeit vorbei…
…geblieben sind dafür solch sympathische Hausboote mit üppigem Deckbewuchs. Das ist wirklich eher Leben als Museum. Der Genter hat’s anscheinend gerne gemütlich, wenn auch ein klein wenig Rebell in ihm steckt:
Überhaupt, Schilder. Mit der Skurrilität Büdingens in puncto Schilderwald können die Genter zwar nicht konkurrieren. Was sie von Falschparkern auf Behindertenparkplätzen halten, machen sie aber sehr deutlich:
„Neem je mijn parkeerplaats, neem dan ook mijn handicap!“ Nimmst du meinen Parkplatz, dann nimm auch meine Behinderung. Gut gegeben, Gent. Das ist ebenfalls Leben, nicht Museum.
Auch sonst herrscht im Straßenverkehr Ordnung. Französische Schräghecklimousinen zum Beispiel – das Auto am Haken ist eindeutig ein Citroën DS – scheinen nicht gerne gesehen zu sein. Man ist hier schließlich nicht in der Wallonie. Gut, dass wir mit einem klassischen Stufenheckmodell Stuttgarter Herkunft angereist sind, da hat man gleich eine Sorge weniger.
Es folgen ein paar der üblichen touristischen Highlights.
Das Stadttheater am Sint-Baafsplein (zu deutsch: Sankt-Bavo-Platz).
Das Turm-Trio: In der Bildmitte die St.-Nikolauskirche am Korenmarkt, rechts davon der Belfried-Glockenturm, dahinter der Turm der Sankt-Bavo-Kathedrale. In letzerer ist normalerweise der Genter Altar von Jan van Eyck aus dem Jahr 1432 zu sehen, auch bekannt als „Die Anbetung des Lamm Gottes“. Leider befindet sich dieser Meilenstein der Kunstgeschichte (dessen Geschichte übrigens ein Krimi für sich ist) derzeit in Restauration. Man darf aber Geld dafür ausgeben, ersatzweise in einer Seitenkapelle eine Nachbildung mit der Anmutung einer Baumarkts-Fototapete zu betrachten. Müssen muss man gottseidank nicht. Ansonsten ist das Innenleben der Kathedrale schlichtweg wunderschön. Schade, dass man es nicht fotografieren darf. Dafür einen Museumsminuspunkt.
Einen Big Ben haben sie auch, die Genter.
Und das Wichtigste: Sie können Waffeln. Außen hauchknusprig, innen zartweich. Selbst wenn Gent am Ende doch ein Museum ist – das Museumscafé ist vom Feinsten.
Glücklich, wer ein Haus mit Seeblick hat…
…und das Ambiente seiner Terrasse entsprechend zu gestalten weiß.
Ein Muss für jeden Besucher und längst kein Geheimtipp mehr: die Confiserie Temmerman an der Kraanlei im Patershol-Viertel, seit acht Generationen im Familienbesitz (zweites Haus von rechts). Unbedingt die lokale Spezialität „Neuzekes“ (Näschen) probieren, rote Bonbons in Kegelform mit Geleefüllung.
Auf dem Vrijdagmarkt…
…prangt das Denkmal des stehengelassenen Straßenbahnpassagiers.
1910 gönnte sich die Sozialistische Arbeitervereinigung diesen Prachtbau: „Ons Huis“ (Unser Haus) zeigt Merkmale des sogenannten eklektischen Stils und des Jugendstils.
Die Grafensteinburg (Gravensteen), eine der größten Wasserburgen Europas, stammt aus der Zeit um 1200 herum und sollte dereinst die Herrschaft der Grafen von Flandern sichern.
Die in die Außentürme eingelassenen, äh, sanitären Anlagen zeigen deutlich, was die Burgherren auf die Rechte der Stadtbewohner gaben.
Nacht in Gent. Der Tourist sucht sich im Patershol ein nicht völlig überteuertes Restaurant, was leider nicht ganz so leicht ist. Eine Mahlzeit unter 20 Euro? Ich bitte Sie. Das flämische Nationalgericht, der Waterzooi-Eintopf, ist fast unbezahlbar.
Irgendwann findet sich doch noch ein annehmbares Gasthaus. Und so geht der Tag zu Ende, die Füße schmerzen, doch im Glas glänzt beste belgische Braukunst. Zeit für die Entscheidung: museale Metropole oder lebendige Stadt?
Kein Zweifel, Gent lebt. Man könnte sogar sagen: Gent grinst. Eigentlich ganz gut, dass die Unesco noch nicht hier war. Wer weiß, was ein Bier sonst kosten würde.
Dieses Blog lebt!
Gut, dass ich moorbraun noch nicht aus dem Feedreader geschmissen habe. Gent hatte ich bislang noch garnicht auf dem Kompass, das hat sich jetzt geändert und der Ort wird beim nächsten Mal, wenn wir mit dem Panda auf der Ecke sind, angesteuert. Vielen Dank!
Glück gehabt
oder doch „Gent gehabt“?
Scheinbar muss ich jetzt mal da hin. Dringend.