Auf ein Neues

1772_350.000km

Eher zufällig fällt es mir auf dem Rückweg auf, als ich kurz auf den Tacho des Moorbraunen sehe: Oh, mal wieder größer genullt. (Apropos größer: Wer ebenfalls die Anschaffung einer Gleitsichtbrille vor sich herschiebt: Die Fotos hier lassen sich seit Neuestem zu einer Galerie großklicken.) Zwar sind 350.000 Kilometer natürlich kein schöner, runder Hunderttausender und auch noch ein ganzes Stück entfernt von der ganz großen Sechsernull, aber immerhin. Mehr als achteinviertelmal um die Erde, auch keine ganz runde Rechnung, aber immerhin. Auch halbe Nuller darf man feiern, manche Leute werden dieses Jahr 45…

Wo war ich? Ach ja, am Grünen Weg in Aachen. Während der Diesel am Straßenrand friedvoll vor sich hinnagelt und ich für das Erinnerungsfoto mit der Kamera unterm Lenkrad durchpeile, wandern ein paar Erinnerungen durch meinen Kopf. Die Touren durch Schottland 1993, 1995 und 2009. Die Provence 2001. Der Nordlichterbesuch 2007. Luxemburg 2012. Immer wieder Ornbau. Die Flucht über die Sprungschanze aus dem Steinbruch. Die große Umdieselung, die Getriebewechsel, die ungezählten Nächte in der Werkstatt. Und, und, und…

Seit 22 Jahren fahren wir jetzt durch dicke und dünne Zeiten, er und ich. Dabei kann ich noch nicht mal behaupten, dass der Schokoladenfarbene den längsten Teil seines Weges unter meinem Hintern zurückgelegt hat. Mit 179.000 Kilometern auf der Uhr habe ich ihn gekauft, damals, im Frühjahr 1993. Sind also noch gute 8000 zu fahren, bis er mehrheitlich „mein“ Auto ist. Von der Lebenszeit her ist er es natürlich längst – zwölf Jahre alt war er, als ich ihn kaufte, heute ist er 34. Also, auf ein Neues. Bei der halben Million feiern wir größer.

Wo war ich? Ach ja, beim Joggen. Mal wieder. Ich hatte bei der letzten Runde neulich das Gefühl, die Möglichkeiten des jüngsten Neuzugangs in meiner kleinen Objektivsammlung, des 20-Millimeter-Weitwinkels Sony SEL 20f28, noch nicht ganz ausgereizt zu haben. Also, auf ein Neues.

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Das erste Erfolgserlebnis wartet schon kurz nach der Überquerung des Beverbachs – ein Überholmanöver! Man ist in dieser Hinsicht ja nicht allzu verwöhnt, so als Dieselfahrer über 40 (Jahre, nicht km/h!) – jedenfalls nicht im Part des Aktiven beim Überholvorgang. Weit scheint der schleimige Geselle seit unserem letzten Treffen am 5. Juni nicht gekommen zu sein. Dafür ist er ähnlich zielstrebig auf der Strecke unterwegs…

1725-Jogger

…wie dieser Herr hier, der mich, nun ja, ziemlich aktiv überholt. Mein Seitenblick in Vorbereitung eines netten „Guten Abend“ bleibt unerwidert: Der flotte Geselle trabt in voll verkabelter iPod-Trance seines Weges. Kann man natürlich machen. Aber dann hört man die Vögel nicht, das Rauschen der Blätter und das Rascheln im Unterholz, wenn man Bewohner aufschreckt, die etwas schneller in Deckung wuseln als Mister Nacktschneck.

1707-Sonnengras

Man kann nie das selbe Foto zweimal machen, sinnierte ich bei der Runde neulich, als es schon zu dunkel war, um das Foto mit dem Joggingschuh vom 12. Mai noch einmal mit mehr Tiefenschärfe nachzustellen. Das bestätigt sich heute erneut: An der Kurve, wo so hübsch die Abendsonne durch die Bäume auf den Boden fällt, ist das Motiv vom letzten Mal buchstäblich vom Erdboden verschwunden: Das Kraut am Wegesrand ist gemäht worden.

1691-Blättersonne

Motive gibt es trotzdem, denn die Sonne scheint auch anderswo.

1698-Baumtunnel

Dann schluckt uns der Tunnel, die Sonne taucht endgültig hinter die Baumkronen ab –

1720-Baumblockade

– wobei interessanterweise auch eine der Baumkronen abgetaucht ist…

…und schließlich ist unsere kleine Abendrunde durch den Öcher Bösch zu Ende. Wieder anders, wieder einzigartig, wieder einfach nur schön. Morgen oder wann heißt es wieder: Auf ein Neues. Für den Moorbraunen und all die anderen, die auf der großen Straße unterwegs sind. Ob im Schneckentempo oder im Sprint. Und die noch so viel vor sich haben.

In der Janusstadt

Lüttich, so erkläre ich Freunden immer, die zum ersten Mal im Maasland sind, Lüttich müsst ihr euch vorstellen wie eine beschauliche mittelgroße französische Stadt aus dem 18. Jahrhundert, auf die in den 60er Jahren eine bulgarische Trabantensiedlung aus Betonhochhäusern gefallen ist.

1413-Yachthafen

Und wenn man dann gemeinsam am Boulevard Frère-Orban die Maas in Richtung Stadtmitte hochschlendert, wird mit jedem Schritt klarer, wie das gemeint ist.

1414-Maasufer

Irgendwann in den 60ern muss ein zukunftsgläubiger Stadtrat beschlossen haben, dass Traufhöhenbegrenzungen etwas für Spießer sind, am Ende gar etwas für Deutsche. Ergo brach in der einstigen Wiege der europäischen Stahlindustrie eine Abriss- und Neubauwut aus, die beim heutigen Betrachter die Erkenntnis weckt, dass die alliierten Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs nicht das Schlimmste waren, das einer mitteleuropäischen Stadt im 20. Jahrhundert widerfahren konnte. Verloren quetschen sich seitdem die wenigen übriggebliebenen einst so imposanten Fassaden der alten, drei- und vierstöckigen Bürgerhäuser zwischen die gewaltigen, gerne mal elfgeschossigen Klötze, die es überall ins Weichgebiet der Stadt gehagelt hat.

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Abgerundet wurde das architektonische Grauen in den folgenden Jahrzehnten vom rapiden Verfall der Schwerindustrie, grassierender Arbeitslosigkeit, fehlenden Mitteln für Restaurierung und Instandhaltung – et voilá, fertig war eine Melange der Tristesse. Die Stadt wurde zum Januskopf – und ihre beiden Gesichter starren in entgegengesetzte Richtungen. Was für ein Kontrast zum nur wenige Kilometer weiter flußabwärts gelegenen, atemberaubend schönen – und dabei historisch vollkommen stimmigen – Maastricht. Was für ein Kontrast auch zum ebenfalls schwer verwundeten, aber danach mit viel gutem Willen wieder zusammengeflickten Aachen. Lüttich wollte ganz nach oben und blieb auf halbem Weg stecken. Die Stadt hatte einst eine Seele – und verlor sie, schrieb der Blogger Don Alphonso, leider finde ich den Link nicht mehr.

1418-Skulptur

Ist das immer noch so? Ja, die Skyline der wallonischen Regionalhauptstadt ist, sagen wir mal zurückhaltend, einzigartig (jedenfalls wünscht man das den anderen Städten dieses Planeten). Aber es ist nicht die einzige Wahrheit. Nicht nur der 2009 fertigestellte Bahnhof Liège-Guillemins von Santiago Calatrava fügt den zwei Seiten der Medaille eine neue Facette hinzu.

1386-Bahnhof

1403-Bahnsteig

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Der Humor der Bewohner tut das Seinige…

1547_Pizza-Belge

…selbst wenn der China-Imbiss mal zu hat.

1546-Wok-Off

Und dann sind da natürlich noch die Juwelen. Für die man manchmal ein paar Schritte abseits des Weges gehen muss. Etwa in die „Impasses“ nördlich der Prachtstraße Hors-Château in der Altstadt. Hier fristeten einst die Dienstboten und Angestellten der Bewohner der Reichen und Schönen der Stadt ihr bescheidenes Dasein. Wer sich durch die teils winzigen Durchgänge an der Hauptstraße…

1426-Impasse

…in diese Labyrinthe aus Hinterhöfen und Sackgässchen quetscht – nirgendwo gibt es eine Verbindung zwischen diesen Stichwegen, stets muss man wieder zurück zur Straße -, wird belohnt durch den Anblick liebevoll geschmückter Gärten und schrullig auf- und aneinandergestapelter Häuser.

1434-Durchgang

1451-Impassenblumen

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Am Nordende der Rue Hors-Château liegt die Stiftskirche Saint-Barthélemy aus dem 11. und 12. Jahrhundert.

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Das Bauwerk aus Grauwacke war Ende der 90er Jahre stark verwittert und wurde nach der Jahrtausendwende mit gewaltigem Aufwand innen und außen saniert.

1473-Kirchenschiff

Dabei wurde nicht nur der gesamte Boden erneuert, um eine moderne Heizungsanlage einzubauen – wobei zahlreiche Gräber entdeckt wurden -, sondern auch alle Außenwände neu verputzt und das Kirchenschiff neu vermörtelt und gestrichen.

1485-Altar

Im Inneren steht man vor dem Taufbecken des Bronzegießers Reiner von Huy aus der Zeit um 1110, eines der „Sieben Wunder Belgiens“.

1468-Taufbecken

Die einzelnen Taufszenen werden durch Abbildungen von Bäumen voneinander getrennt. Man erkennt die Taufe Jesu im Jordan, die Predigt Johannes’ des Täufers in der Wüste, die Taufe von zwei Katechumenen, die Taufe des römischen Hauptmanns Kornelius und die Taufe des griechischen Philosophens Craton. (Wikipedia)

Aber auf uns wartet noch die ganz große Herausforderung – am anderen Ende der Straße.

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Nämlich die Montagne de Bueren, der berühmten Treppenstraße.

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Dieses Bauwerk verbindet die Altstadt mit der auf dem Berg gelegenen Kaserne der Zitadelle…

1514-Rosentor

…und sorgt seit dem 19. Jahrhundert bei Bewohnern wie Touristen für definierte Waden.

1501-Treppentueren

1528-Treppenpanorama

Nein, aus Spaß keucht man nicht sämtliche 374 Stufen bis nach oben. Man tut das für die Aussicht, denn die ist grandios. Und natürlich, um sich selbst in eitler Pose auf dem Gipfel für die Nachwelt zu verewigen. Einmal lächeln, auch wenn’s nicht leicht fällt. (Endlich hat es sich einmal gelohnt, stundenlang das Stativ durch die Gegend zu schleppen.)

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Und schließlich, um nach erfolgreichem Abstieg schnurstracks hinter der Ecke in die Brasserie Curtius abzubiegen, einen ebenso schnuckeligen wie abgelegenen Biergarten im ehemaligen Ursulinenkonvent mit angeschlossener Mikrobrauerei.

1540-Leuchtbier

Und während man das traulich im Glas leuchtende, vor Ort gebraute Lütticher Bier die durstigen Kehlen herunterlaufen lässt, stellt man fest, dass sich die Frage nach der Seele dieser merkwürdigen Stadt längst erledigt hat. Lüttich, die Janusstadt, hat eben einfach: mehr als nur eine.

Tierisches Glück

Hundi war nicht glücklich. Schon als ich mein Fahrrad neben dem Eingang des Hirsch-Centers in den Ständer parkte, neben dem man ihn angebunden hatte, warf der kaum vierzig Zentimeterchen hohe Miniaturwuschel abwechselnd erbarmungswürdige Blicke um sich und den Kopf in den Nacken, um ein „auuuuuuuuh“ in den Aachener Abendhimmel zu heulen, wie es Loriots Wum seligen Angedenkens nicht trauriger hinbekommen hätte.

Hundi235

Als ich eine Viertelstunde später, bestückt mit Brot, Badeschwamm und Putensalami, wieder aus dem Einkaufszentrum gestiefelt kam, war ich etwas überrascht, das so lauthals einsame Tierchen immer noch dort sitzen zu sehen.

Eigentlich geht einen sowas ja gar nichts an.

Andererseits ist es aber auch kein schlechtes Motto, das eine oder andere Wesen, dem man auf seinem Weg durchs Leben begegnet, glücklicher zurückzulassen als zuvor. Und wie oft hat man schon einen Satz Putensalamischeiben in der Fahrradtasche dabei?

Doch das Leben kann sehr hart sein zu Taschenhunden. Da hatte arm klein Wauzi so lange gelitten – und just als der fremde Mann die Wurstpackung aufgenestelt hatte, kam Frauchen samt Freundin zurück. Ausgerechnet!

Doch auch wenn sich das Hundi jetzt ebenso lauthals wie wedelschwänzelnd freute, seine Leinenträger wieder zurückzuhaben – sollte man für so viel Wartezeit und Einsamkeit nicht auch wenigstens eine winzige materielle Entschädigung bekommen dürfen?

Frauchen nickte lachend. Und Hundi schaffte es, gleichzeitig am Bein seiner Zweibeinerin auf- und abzuspringen, zu bellen und mit einem Schnauzenhapps die sich von oben nähernde Salamischeibe aus meinen Fingern zu schnappen.

Während ich dem geräuschvoll von dannen ziehenden Trio nachschaute, bildete ich mir ein, Hundis Schwänzchen hätte glatt nochmal an Drehzahl zugelegt. Auch in einem Hundeleben gibt es halt Tage, da darf man einfach mal tierisches Glück haben.

Kippenhalden

Da denkst du manchmal: Raucher sind ja irgendwie auch bloß normale Menschen, die es auch nicht immer leicht haben.

Kippenhalden15

Und dann hältst du an so einem Rastplatz.

Lichtspieltheater

Eine Sache muss einem von vornherein egal sein, wenn man mit einem fürs Gewicht untergroßen Körper ausgestattet ist und an diesem Umstand etwas ändern möchte: Wie man beim Trainieren aussieht. Sport macht man halt nicht, um dabei eine gute Figur abzugeben, sondern davon um eine zu bekommen. Ob da etwas schwabbelt, hängt oder hüpft, hat einem gleichgültig zu sein, sonst bleibt man auf ewig in den Klauen von Schwerkraft und Statik gefangen.

Dies selbstbewusst in den Raum gestellt habend, muss ich einräumen, bei körperlicher Betätigung schon einige Male ein reichlich komisches Bild abgegeben zu haben. An jenem späten Winterabend auf der Finnbahn Königshügel etwa, als es so dermaßen kalt zu schneeregnen anfing, dass ich nach Runde zwei kurz am Auto stoppen und mir den Taschenschirm aus der Beifahrertür holen musste. An diesem Abend habe ich die Sportart Schirmlauf erfunden. Gesehen haben es gottseidank nur wenige und von mir erfährt es keiner.

Auch damals, beim Hermannslauf 2006, als ich wohl als einziger Teilnehmer ein Handy dabei hatte und so bei Kilometer 30 der Bodencrew das nahende Ende der überlangen Wartezeit ankündigen konnte, haben die neben mir Keuchenden etwas zu Grinsen gehabt.

Zur Zeit ist es die Kamera, die mich aus der anonymen Menge der Waldläufer abhebt. Sonys Nex-6 spielt ihren Vorteil, so viel kleiner und leichter als eine Spiegelreflexkamera zu sein, nämlich erst dann voll aus, wenn man sie mit zum Joggen nimmt. Das geht tatsächlich.

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Es hilft also nichts, Ihr Lieben. Wir müssen nochmal in den Wald.

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Das Abendlicht ist nämlich heute einfach zu schön.

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Das glitzert im Laub, das spielt im Moos, das leuchtet im Farn.

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Fast könnte man querende Wildtiere von rechts übersehen…

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…oder andere Waldbewohner mit eingebauter Vorfahrt.

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Getreu dem Motto, dass die beste Kamera die ist, die man dabei hat, habe ich mir am vergangenen Wochenende noch ein weiteres Objektiv zugelegt: das Sony SEL 20f28, ein Weitwinkelobjektiv mit 20 Millimeter Brennweite. In puncto Bildqualität kann es zwar bei weitem nicht mit dem kristallklaren Zeiss Touit f1.8/32 mithalten – aber als sogenanntes Pancake hat es den Vorteil, das kleinste Objektiv für Sonys E-Mount-Bajonett überhaupt zu sein. Sehr schön illustriert hier beim Phoblographer.

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Es trägt also nicht nur in der Jackentasche kaum auf, es lässt sich auch ohne Jacke sehr gut tragen. So stapft man doch gerne über matschige Reitwege und den sandigen Boden des Waldes, in dem sich die letzten Strahlen der Abendsonne brechen.

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Dann ist sie vorbei, die goldene Stunde. Und es stimmt, was man sagt: Du kannst jedes Foto nur ein einziges Mal in deinem Leben machen. Das Joggingschuh-Motiv bei der letzten Runde neulich (bei dem ich mich im nachhinein über zu wenig Tiefenschärfe geärgert habe) konnte ich diesmal bereits nicht mehr nachstellen – als ich die schöne Wegbiegung erreicht hatte, war das Abendlicht schon weg.

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Dafür bietet sich reihenweise Anderes zum Ablichten. Nachdem ich vor einem Jahr im Venn so fotografisch frustriert war, habe ich jetzt endlich das Gefühl, es geht voran. Plötzlich ist die Welt voller Motive.

Und wie man dabei aussieht, in kurzen Jogginghosen auf einem Waldweg vor einer Nacktschnecke zu knien? Na, das ist einem dann auch egal.

Es gibt diese Tage

…da bleibt man besser im Bett. Ist besser für den Blutdruck.

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Zuerst denkt man ja an einen unabwendbaren Schicksalsschlag, wenn man so viel Vogelmist auf der Haube entdeckt.

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Dann wiederum entdeckt man den Mistvogel auf seinem Mast und merkt, dass es die reine eigene Dummheit war. Und kein Zufall, dass ausgerechnet dieser schöne große Parkplatz noch frei war neulich, schon so leider viele Tage her.

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Ich war ja immer gegen die Geflügelmast. Wie grausam, armen Vögeln gewaltsam Futter in den Rachen zu stopfen! Aber es gibt das durchaus eine oder andere Geflügel, dem möchte ich selbst einen ganzen Mast irgendwo hinstopfen – wenn auch nicht gerade in den Rachen.

Aachen mit anderen Augen

Die Führung begann um 10 Uhr am Dom und das war in zehn Minuten. Entsprechend flotten Schrittes marschierten Eva und ich die Adalbertstraße hoch. Schließlich mussten wir auch noch die Karten kaufen.

Wir waren nur noch ein paar Schritte vom Eingang des Drogeriemarktes entfernt, als der junge Mann im Kapuzenpulli aus der Tür kam, die Hände voll mit kleinen Artikeln an den Bauch gepresst. Nein, er kam nicht. Er rannte, er spurtete, kaum dass er auf der Straße war, und im selben Moment schrillte auch schon der Alarm los.

Alles Mögliche schießt dem Zufallszeugen in solchen Momenten durch den Kopf. Was passiert da? Der klaut da gerade was! Du musst ihn aufhalten! Noch bevor mein Hirn zu komplizierteren Situationsanalysen vordringen konnte, etwa, ob es mit irgendwelchen Nachteilen verbunden sein könne, sich einem flüchtenden Straftäter in den Weg zu stellen, stürmte ich auf den hageren Jüngling zu, laut etwas von „bleib stehen“ brüllend. Erschreckt wich er aus, ich griff nach ihm, verfehlte ihn, rannte ihm nach, er stürzte aufs Pflaster, Rasierklingenpackungen flogen in alle Richtungen, er rappelte sich auf und raste mit Höchstgeschwindigkeit die Straße hinunter in Richtung Kaiserplatz.

Zurück blieben vier Viererpacks Gillette Fusion Pro Glide zu immerhin je 18,99 Euro. Vor den Augen mehrerer stehengebliebener Passanten sammelte ich die Packungen auf, trug sie in den Laden zurück und drückte sie, noch reichlich außer Atem, einer etwas verdutzten Kassendame in die Hände. „Sind Sie geschädigt worden?“, fragte eine ältere Kundin. „Nein, ich bin ihm nur nachgelaufen“, erklärte der Retter der Gilettes mit bescheidenem Stolz und leichtem Keuchen.

Wir haben es dann nicht mehr rechtzeitig zum Dom geschafft. Aber das schöne Gefühl, einmal im Leben nicht wie ein Depp mit offenem Mund von den Ereignissen überrollt worden zu sein, war die Stunde Wartezeit bis zur nächsten Führung schon wert.

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Der Blumenladen am Fischmarkt heißt Blütezeit, und hätten wir nicht unsererseits die unverhoffte Zeit genießen können, wären er und seine üppig blühenden Auslagen mir wohl gar nicht aufgefallen. Man sieht auch Altvertrautes mit anderen Augen, wenn man plötzlich gezwungen ist, es wahrzunehmen.

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Wie auch diese possierlichen Bommelblumen im Elisengarten. Überhaupt, der Elisengarten: An so einem sonnigen Tag ist er voller gut gelaunter Leute, die es sich auf den Stufen gemütlich gemacht haben, mit ihren Kindern auf dem Rasen Ball spielen oder im archäologischen Pavillon neugierige Blicke auf die freigelegten Mauerreste aus zig Jahrhunderten werfen.

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Aachen ist voller Seele an solchen Tagen. Ich empfinde es als ganz großes, intensives Glück, an genau dem Ort der Welt leben und arbeiten zu dürfen, an dem ich es möchte. Und ich möchte nirgendwo anders sein als genau hier, in dieser uralten Stadt, die irgendwie das Wunder vollbracht hat, sich ihr kleines großes Herz bis heute zu bewahren, allen Stadtbränden, Bombennächten, Endsiegkämpfen und Modernisierungwellen zum Trotz.

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Und dabei bis heute immer wieder das Öcher Augenzwinkern durchblitzen zu lassen. Ob im Doppeladler über dem Grashaus, dem neu eröffneten „europäischen Klassenzimmer„, in dem Schüler an Europa-Workshops teilnehmen…

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…dem Hinweisschild auf die Warteschlange an der Wursttheke eines Imbisses…

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…oder in der – doch garantiert studentischen! – Reaktion auf ein eigentlich gar nicht lustiges Statement.

Doch dann beginnt unsere Führung – das heißt, eigentlich sind es zwei: eine Stadt- und eine Domführung. Die ebenso fundierten wie gelegentlich verschmitzten Erklärungen unseres Ortssachkundigen – er heißt Ortwin Vahle und sei hiermit allen Wissbegierigen ans führerlose Herz gelegt – bieten selbst für Nicht-mehr-ganz-Neu-Öcher noch reichlich Neues. So hatte ich zum Beispiel bis zu diesem Tag geschafft, nicht mitzubekommen, dass der schöne Katschhof so heißt, weil dort die Menschen gekatscht, sprich: geköpft, wurden.

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Ja, man sieht seine eigene Stadt mit anderen Augen, wenn man mal veranlasst wird, etwas genauer hinzuschauen. Und den Dom? Wie erlebt man den Dom, wenn man professionell geführt und begleitet wird?

Man sieht andere Details. Man bekommt ein anderes Auge für die Mosaiken, die Muster, die Gewölbe und Gepränge. (Einzelheiten und Hintergründe möge der interessierte Leser doch bitte an geeigneterem Orte nachschlagen, vielen Dank für Ihr Interesse.)

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Und am Ende gruselt man sich doch leicht vor dem menschlichen Schädel im Epitaph von Johann und Jakob Brecht in der Seitenwand der Nikolauskapelle.

Ein paar Schritte vom Dom entfernt, kauert sich in eine Nische am Granusturm des mächtigen Rathauses der uralte hölzerne Postwagen, eine skurrile Gaststätte mit winzigen Räumchen, Treppchen und Bänkchen. Wo könnte man den Rundgang durch Aachen besser ausklingen lassen als hier, die Köpfe voller Bilder und die Füße müde vom Gang durch die winkligen Gassen – und dem morgendlichen Sprint hinter dem Langfinger her?

Und siehe da, noch einmal haben wir Glück und können Vertrautes mit neuem Blick genießen. Auf dem Markt findet eine Oldtimerrallye statt. Wo sonst Gebackenes, Geerntetes und Geschlachtetes über die Theke geht, rangiert, manövriert und paradiert jetzt Poliertes und Verchromtes direkt vor unseren Augen.

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Ach, Aachen. So alt und immer wieder neu. Fortsetzung folgt. Schon morgen.