Schon die Überschrift ist eigentlich eine Unverschämtheit. Die Mediocren, das sind „die Mittelmäßigen“. Ein Film von 1995 hieß so mit Jasmin Tabatabai, Jürgen Vogel und Dany Levi. Mittelmäßig als Attribut für ein Objektivtrio aus der berühmten Linsenschmiede Meyer-Optik Görlitz? Noch dazu in der Version mit dem Bajonett der legendären Exakta-Kameras?
Tja nun. Schauen wir uns die Kandidaten doch einmal an, die da mit uns ins Würselener Wurmtal dürfen.
Da wäre erst einmal das Orestegon 2.8 29 (links im Bild). Das Weitwinkel mit der einzigartigen Brennweite von 29 Millimetern wurde 1966 vorgestellt, damals noch in der klassischer Zebra-Fassung mit blank geriffeltem Fokusring. Es war nicht nur die weitwinkeligste Brennweite, die je das Görlitzer Werk verlassen hat, es war mit sieben Linsen auch das aufwendigste Objektiv von dort. Ab 1971 gab es die hier vorgestellte Bauform in schwarz mit den metallisch blanken Vierecken am Blendenring. Noch im selben Jahr wechselte der Produktname zu Pentacon 2.9 28, etwas später wurde die Fassung dann durchgehend schwarz und bekam noch etwas später die bekannte Kreuzrändelung am Fokusring und Mehrschichtvergütung auf den Gläsern. In dieser Form wurde das Objektiv – ausschließlich mit M42-Gewindeanschluss – bis zum Ende der DDR gebaut. Es füllte im Objektivangebot die Lücke zwischen dem teuren Superweitwinkel Flektogon 4 20, später 2.8 20 (sowie dem nur einige Jahre lang angebotenen 4 25) und dem Flektogon 2.8 (später 2.4) 35, beide von der Premiummarke Carl Zeiss Jena. Tausende und Abertausende von Praktica-Nutzern überall in Europa und Übersee bauten auf das 29er aus Görlitz. Meyer war, spätestens ab 1971, als der Hersteller ausschließlich unter VEB Pentacon firmierte, für den preisgünstigen Sektor und die hohen Stückzahlen zuständig.
Heute haben Fotofreunde eine gewaltige Auswahl an mittleren Weitwinkeln zwischen 28 und 35 Millimetern, die exotische Brennweite aus Görlitz ist nur eine Alternative von etlichen. Und, das darf man wohl sagen: leider nicht die attraktivste. Die Besprechungen und Testergebnisse des Orestegons waren schon zu dessen Lebzeiten nicht euphorisch und sind heute, höflich gesagt, durchwachsen. Mehrere Rezensenten verreißen das Orestegon völlig („das schlechteste Objektiv, das ich je an der Kamera hatte“), andere loben dagegen Bildqualität, Rendering, Bokeh und Kontrast. Einig sind sich alle Stimmen: Bei offeneren Blendenstufen sei die Bildmitte ja noch halbwegs scharf, aber die Ränder einfach nur flau bis völlig zermatscht, der Kontrast schwach. Erst oberhalb von F4, vor allem bei F8 bis F11, wird das Bild dann durchgehend scharf und kontrastreich. Die Fertigungsqualität sei wechselhaft, vor allem bei den letzten Jahrgängen, die wohl teilweise oder ganz bei IOR in Bukarest gefertigt wurden. Erst als die Konstruktion 1878 zum neuen Pentacon Prakticar 2.8 28 für das PB-Bajonett weiterentwickelt wurde, konnte das Objektiv überzeugen. Unter den Weitwinkeln der Altglaswelt erscheint das Orestegon aus heutiger Sicht – tja, höchstens ausreichend bis okay. Mittelmäßig halt.
Dann ist da das Oreston 1.8 50 (Mitte). Das 1961 konstruierte, ab 1963 produzierte und 1969 noch einmal optisch überarbeitete Objektiv wurde – spätestens ab 1971, als es in Pentacon 1.8 50 umbenannt wurde und zu Hunderttausenden auf den Weltmarkt gepumpt wurde, für fast 20 Jahre zum lichtstarken Standardobjektiv der DDR-Kameraindustrie. Seine Abstammung ist von Mythen umwoben, es wurde wohl aus dem Hochleistungsobjektiv Domiron 2 50 entwickelt, mit dem Meyer 1960 dem berühmten Biotar 2 58 des großen Rivalen Zeiss Jena Konkurrenz machen wollte. Das ging den DDR-Wirtschaftslenkern zu weit, Konkurrenz war in einer Planwirtschaft nicht vorgesehen, das Domiron musste eingestellt werden.
Zu seiner Zeit war das Oreston allerdings alles andere als mittelmäßig. Der aufwendige Sechslinser schlug in seiner Bildqualität das Einstiegsobjektiv, den einfachen Dreilinser Meyer Domiplan 2.8 50, um Längen. Das für seine Schärfe gerühmte Tessar 2.8 50 aus dem Hause Zeiss Jena übertraf es in punkto Lichtstärke um mehr als eine ganze Blendenstufe. Einzig dem exzellenten Zeiss-Objektiv Pancolar 1.8 50 musste es sich geschlagen geben. Es war ihm zwar bei den Leistungsdaten auf dem Papier und wohl auch in der Bildleistung bei kleineren Blendenstufen ebenbürtig, hinkte ihm aber in der Königsdisziplin Offenblende messbar hinterher. Was auch gewollt war: Das Oreston war nun einmal die etwas einfachere Konstruktion mit weniger teuren Gläsern. Dafür war es preisgünstiger.
Das Oreston ist aus heutiger Sicht immer noch durchaus befriedigend, größere Schwächen leistet es sich nicht, aus der Masse heraus ragt es andererseits auch nirgendwo. Es gibt ungezählte gleich gute bis deutlich bessere 50-Millimeter-Objektive, angefangen bei den Pancolaren von Zeiss Ost über die Planare von Zeiss West, bis zu den Dutzenden auch heute noch günstiger und hervorragender Standardobjektive aus Japan, etwa von Canon, Minolta oder Nikon. Das Oreston ist in diesem Feld: leider halt auch nur ein Mittelklässler.
Aber das Orestor 2.8 100? Mittelmaß? Nein, wirklich nicht. Nach übereinstimmendem Urteil der Fachwelt ist das Orestor ein echtes Juwel, zusammen mit seinem gleichnamigen Bruder 2.8 135 vielleicht das Beste, was je die Görlitzer Werke verließ. Die Konstruktion vom berühmten Sonnar inspiriert. Brillant, herausragend, übertrifft bereits bei Offenblende 2.8 die Bildleistung vieler anderer, lichtstärkerer Objektive.
Es gab allerdings zwei Versionen des Orestors. Die erste, zylindrische Fassung von 1966 hatte eine einfache Rastblende, 14 Lamellen und eine kreisrunde Iris. Sie ist – gerade an modernen Digitalkameras – zweifellos die optisch bessere und überaus begehrt. Ein kompaktes Porträtobjektiv, das noch heute begeistert.
Dann haben wir die zweite Version ab etwa 1970, mit automatischer Druckblende – und, bei identischem Linsenaufbau, einer Blende mit nur noch sechs Lamellen. Diese Blende ist denn auch das Einzige, das diesem Orestor vorzuwerfen ist: Das Objektiv hat, so wie auch das Oreston und das Orestegon oben, eine sechseckige Iris mit – und das ist ungewöhnlich – schnurgeraden Lamellenkanten. Sechs Lamellen sind grundsätzlich keine Schande, aber bei den allermeisten Objektiven sind sie abgerundet. Die Blätter des späten Orestors machen das berühmte butterweiche Bokeh etwas weniger sanft, vor allem aber werden Spitzlichter im Hintergrund sichtbar kantig.
Warum dieser scheinbare Rückschritt? Jahrzehntelang waren ein Dutzend Lamellen und mehr das Optimum im Objektivbau. Doch beim Aufkommen kürzerer Verschlusszeiten und automatischer Blendensteuerung kamen die feinblättrigen Blütenkonstruktionen beim präzisen und schnellen Öffnen und Schließen nicht mehr mit. Die Konstrukteure gingen also zu sechs oder sogar nur fünf Lamellen über. Die aber waren meist gerundet, so dass Hintergrundlichter nicht ganz so brutal kantig wirkten. Ob die Ingenieure bei Meyer diese streng geometrische Iris wählten, weil die kantigen Lichter technische Modernität signalisieren sollten? Egal, sie haben sich nicht durchgesetzt, auch das Oreston/Pentacon 1.8 50 bekam ab 1975 nicht nur Multi Coating auf die Gläser spendiert, sondern auch – übrigens überaus stark – gerundete Lamellenblätter.
Bleibt noch zu erwähnen, was es mit dem Exakta-Bajonettanschluss auf sich hat. Eigentlich gab es die Görlitzer Spitzenprodukte aus den späten 60er-Jahren nämlich nur noch mit M42-Gewinde für die Praktica-Kameras. Doch 1969 machte man noch einmal eine Ausnahme für die neu entwickelte Kamera Exakta RTL 1000 – eine Variante der Praktica LLC mit Extakta-Bajonettanschluss. Man hoffte, mit ihr den Nutzern der seit 1950 gebauten Ihagee-Kamera Exakta Varex – in ihren Hochzeiten ein weltweit geschätztes Spitzenprodukt der DDR-Fotoindustrie, mittlerweile aber zusehends veraltet – einen zeitgemäßen Nachfolger anbieten zu können. Vier vorhandene Objektive wurden eigens für diese Kamera auf Bajonettanschluss und Innenblendmessung umkonstruiert. Neben den drei hier vorgestellten Meyers gab es noch eine Variante des Zeissschen Pancolars 1.8 50. Doch die RTL 1000 floppte am Markt und wurde nur drei Jahre lang gebaut. Entsprechend gering blieb die verkaufte Auflage der kleinen Objektivfamilie.
Warum nun marschiert man mit Orestegon, Oreston und Orestor auf Fotopirsch statt mit ähnlich teurem, aber anerkannt besseren Altglas? Wenn es unbedingt DDR-Ware sein muss, warum nimmt man nicht Flektogon, Pancolar und Sonnar aus Jena mit, untadelig im Ruf und noch heute überaus beliebt?
Schwer zu erklären. Warum fahren Leute in einem ollen 1968er Opel Manta durch die Lande? Warum restaurieren Fans historische Kreidler-Mopeds? Warum legen manche Musikliebhaber lieber Schallplatten auf, als den Streamingdienst einzuschalten? Warum benutzt man zum Fotografieren überhaupt jahrzehntealte manuelle Linsen statt zeitgemäßer Objektive mit Vollautomatik und Autofokus?
Vielleicht, weil erst das Reduzieren aufs Wesentliche eine so alltäglich gewordene Tätigkeit wie von das Fahren von A nach B oder das Anfertigen eines Fotos wieder zum Vergnügen macht? Weil beim Rühren im Getriebe eines Oldtimers ohne Fahrwerkselektronik ein ganz anderes Gefühl für die Straße aufkommt? Weil man Musik anders schätzt, wenn man erst den Tonträger aus der Papierhülle nehmen und vorsichtig auf den Plattenteller legen muss? Und weil das gefühlvolle Drehen am Fokus und das klickende Einrasten des Blendenrings den Fotografen wieder zwingen, sich aktiv mit Aufbau und Gestaltung seines Bildes auseinanderzusetzen? Wer so denkt, der will irgendwann auch nicht mehr unter den historischen Objektiven das hervorragende oder gar perfekte, eben das moderne und damit langweilige. Er unterwirft sich gerne den Einschränkungen eines aus heutiger Sicht „mangelhaften“ Objektivs und schätzt die Herausforderung, gerade mit diesem nicht vollkommenen Werkzeug kreativ zu sein.
Die drei Meyers hier bieten genau das. Und es ist ja nicht so, dass sich mit ihnen nur stümpern lässt. Weit gefehlt. Schärfe können sie um F8 herum so gut wie jedes moderne Objektiv, da überzeugen sie auch heute. Ihr Bokeh ist ganz anders als das ihrer Nachfolger aus dem 21. Jahrhundert. Bei Offenblende und knapp darunter dagegen bieten sie die Herausforderung: Dass man sich eben genau überlegen muss, was sie können und was nicht – und was für ein Bild man eigentlich erzeugen möchte. Und dann überraschen sie hier und da mit ganz ausgezeichneten Leistungen in Spezialdisziplinen: Das Orestegon 2.8 29 etwa taugt mit seiner Nahgrenze von nur 25 Zentimetern wunderbar für spannende Detailaufnahmen. Ebenso das Oreston, das bis auf exzellente 33 Zentimeter an das Motiv herankriechen kann, für ein 50-Millimeter-Objektiv ein überragender Wert. Und das Orestor 2.8 100 ist in der Summe seiner Eigenschaften ein auch heute noch uwmerfend gutes Porträtobjektiv. Und auch die eckigen Lamellen haben eine gute Seite: Sie produzieren nachts wunderbare Lichtsterne.
In einem Punkt ist das Trio sogar ganz modern: In der Bajonett-Variante lassen sie sich genauso fix durch einen schnellen Dreh an der Kamera wechseln wie ihre modernen Nachfolger. Der Bildqualität wiederum lässt sich auf die Sprünge helfen, indem man den nur einfach vergüteten Gläsern durch Gegenlichtblenden – die hier abgebildeten Exemplare gibt es in der E-Bucht für ein paar Euro aus China – unter die Achseln greift. Und beim Kriechen durchs Moos an einem bewölkten Wintertag ist ein Stativ hilfreich, dann kann auch problemlos bis in die besseren Bildqualitäten hinein abgeblendet werden.
Wer also gerne die Konstruktionen der legendären Görlitzer Werkstätten an seiner Kamera hat, ein halbes Jahrhundert alt und mit entsprechend historischem Rendering, aber mit noch immer annehmbaren Leistungsdaten, und wer beim Wechseln keinen Wert auf langes Gefummel mit Schraubanschlüssen legt, der kommt an diesen etwas selteneneren Varianten von Oreston, Orestegon und Orestor nicht vorbei. Ähnlich komfortabel waren aus DDR-Produktion erst wieder die Prakticar-Objektive mit dem PB-Bajonett ab 1978. Die sind aber auch eine ganze Generation „moderner“ und bieten mit ihren Griffringen aus Gummi oder Kunststoff wieder ein ganz anderes haptisches Erlebnis.
Mit einem Ferrari über die Landstraße zu heizen, macht sicher Spaß – aber ist reine Perfektion nicht auch ein bisschen langweilig, ein bisschen steril, ein bisschen ohne Herausforderung? Es muss wohl so sein, sonst würden nicht so viele Leute alte Opel Mantas hegen und pflegen, an Kreidler Floretts herumschrauben – und Meyer Orestegons an ihre Kamera klipsen.
Sehr schöner Artikel. Ich entwickle selbst gerade eine Schwäche für die alten M42er. Man ist doch arg bequem geworden mit all der neuen Technik, die so vieles automatisch kann. Zeit, das wirkliche Fotografieren wieder zu lernen. Und dafür sind die alten Eisen perfekt.